Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 4, S. 627–629
Niels Erik Rosenfeldt The „Special‟ World. Stalin’s Power Apparatus and the Soviet System’s Secret Structures of Communication. Museum Tusculanum Press Copenhagen 2009. Vol. 1: 633 S.; Vol. 2: 520 S. ISBN: 978-87-635-0773-8.
Der dänische Historiker Niels Erik Rosenfeldt beschäftigt sich bereits seit mehr als 30 Jahren mit einem Teilbereich des frühen sowjetischen Herrschaftssystems, den er griffig als „Stalins Geheimapparat“ bzw. „Stalins Geheimkanzlei“ bezeichnet. Offensichtlich hat er es sich zur Lebensaufgabe gemacht, möglichst viele Informationen über zwei geheimnisumwitterte, hinter den Kulissen des politischen Alltagsbetriebes operierende Institutionen zusammenzutragen, die seiner Meinung nach im Zentrum des stalinistischen politischen Systems standen und zu Stalins wichtigsten Herrschaftsinstrumenten gehörten: die von 1926 bis 1934 bestehende, zum Apparat des ZK gehörende Geheimabteilung (Sekretnyj Otdel) und ihr Nachfolgeorgan, den Besonderen Sektor (Osobyj Sektor) des ZK, der bis zu Stalins Tode existierte. War die Geheimabteilung zumindest räumlich ein Bestandteil des ZK-Apparates am Alten Platz, so veranschaulicht die Verlagerung des Besonderen Sektors in den Kreml’, in die Nähe von Stalins Arbeitszimmer und persönlichem Sekretariat, wie sich neuartige Herrschaftsstrukturen jenseits von ZK und Regierung herausbildeten, die dem exklusiven Zugriff des sowjetischen Diktators unterstanden und ihm den Ausbau seiner persönlichen Macht zu Lasten anderer Institutionen gestatteten.
Eine erste Arbeit zu diesem Thema hat Rosenfeldt bereits 1978 veröffentlicht (Knowledge and Power. The Role of Stalin’s Secret Chancellery in the Soviet System of Government. Kopenhagen 1978). Der vorliegende Doppelband ist nicht nur eine Zusammenfassung seiner früheren Publikationen, sondern auch eine empirisch angereicherte Erweiterung dieser älteren Arbeiten, denn nach Öffnung der russischen Archive hat Rosenfeldt eine Vielzahl von Materialien auswerten können, die ihm zuvor nicht zugänglich waren. Daneben hat er in breitem Umfang die westliche und russische Forschung der jüngsten Zeit rezipiert. Der erste, 633 eng bedruckte Seiten umfassende Band behandelt die Geheimapparate an der Spitze der Parteihierarchie. Der zweite Band ist den Geheimapparaten der sowjetischen Sicherheitsdienste und der Komintern gewidmet; er ist keine Fortführung des ersten und kann daher als separates Werk aufgefasst und gelesen werden. Er bleibt hier unberücksichtigt. Im Mittelpunkt des ersten Bandes stehen zum einen Entwicklung, Strukturen, Personal, Aufgaben und Arbeitsweise der Geheimabteilung und des Besonderen Sektors, zum anderen die Frage, welche Bedeutung die Kontrolle von Informationsflüssen für Stalins Herrschaftsausübung hatte. Eingebettet wird die Geschichte des Geheimapparats in die Entwicklung des politischen Systems der Sowjetunion bis zu Stalins Tod.
Eingangs schildert Rosenfeldt, wie sehr die Bol’ševiki schon vor 1917 Geheimhaltung und Konspiration nicht einfach nur für notwendig hielten, sondern an sich schätzten und nachgerade zu einem Fetisch erhoben. Auch nach Festigung ihrer Macht hielten sie angesichts einer tatsächlichen oder auch nur eingebildeten Bedrohung durch innere und äußere Feinde an den erprobten Praktiken von Geheimhaltung und Konspiration fest. Der Drang, das Wirken der Partei vor neugierigen Blicken abzuschirmen und möglichst viele Informationen vor der Bevölkerung, dem Fußvolk der Partei und selbst Teilen der Parteielite geheim zu halten, wurde im Laufe der Jahre zur Obsession, die nicht zuletzt aus dem Bedürfnis erwuchs, das Ein-Parteien-Regime durch einen konkurrenzlosen Informationsvorsprung gegenüber der Gesellschaft abzusichern. Parallel dazu entstanden an der Spitze der Partei administrative Strukturen, denen das Monopol für die zielgerichtete Sammlung, analytische Auswertung, sichere Verwahrung und selektive Weitergabe als geheim eingestufter Informationen zuerkannt wurde. Ab Mitte der zwanziger Jahre nahm die Geheimabteilung des ZK konkrete Gestalt an. Die Schlüsselstellung als Generalsekretär ermöglichte es Stalin, sein persönliches Sekretariat mit der Geheimabteilung zu einer Art Nervenzentrum zu verschmelzen, wo schließlich alle Informationskanäle zusammenliefen und die Parteiführung anhand des eingehenden Materials ein umfassendes Bild von der Lage im Partei- und Staatsapparat, in der Wirtschaft und in der Gesellschaft zu gewinnen suchte. Je weiter Stalin aus der kollektiven Führung herauswuchs, desto mehr wurde die Interpretation der vorliegenden Informationen und ihre Umsetzung in politisches Handeln zu seiner persönlichen Prärogative. Ab Ende der zwanziger Jahre intensivierte sich zudem die Kooperation zwischen der unter Stalins Kontrolle stehenden Geheimabteilung und den Sicherheitsdiensten, die im Zuge der Stalinschen ‚Revolution von oben‛ als Überwachungs- und Repressionsinstrument immer mehr an Bedeutung gewannen. Die organisatorische Vorbereitung des Großen Terrors war ohne das Zusammenwirken von Stalins Sekretariat, Besonderem Sektor und NKVD nicht denkbar.
Der Wert all dieser Darlegungen wird durch gravierende Schwächen des Buches geschmälert, vor allem durch ein staunenswertes Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag. Mehrfach konstatiert Rosenfeldt, die extreme Zentralisierung des politischen Systems und die Bündelung der Entscheidungsgewalt in den Händen weniger Personen habe an der Spitze von Partei und Staat zu einem information-overload geführt. An diesem Gebrechen krankt leider auch Rosenfeldts weitschweifige, detailversessene und faktenlastige Darstellung, die hohe Ansprüche an die Konzentrationsfähigkeit des Lesers stellt – und überhaupt an seine Bereitschaft, weiterzulesen. Ein kritisches Lektorat hat anscheinend nicht stattgefunden, wäre aber dringend nötig gewesen, um den enorm aufgeblähten Text zu straffen, thematische Redundanzen abzubauen und die Präsentation des Materials leserfreundlicher zu gestalten. Wer mit der Forschung zum Stalinismus bereits gut vertraut ist, wird dem Buch wenig Neues entnehmen können. Was Rosenfeldt über das Nebeneinander formaler Institutionen und informeller Herrschaftsmechanismen an Stalins ‚Hof‛, über den Bedeutungsverlust des Politbüros, den Übergang von der Oligarchie zu Stalins Alleinherrschaft, über die Organisation des Großen Terrors sowie über die Aufwertung des Staatsapparates im Spätstalinismus schreibt, geht nicht über das hinaus, was die internationale Forschung in den letzten 15 Jahren erarbeitet hat. Nicht zuletzt deshalb ist der erste Band über weite Strecken kaum mehr als ein viel zu lang geratenes, ermüdendes Referat der Sekundärliteratur, dem hier und da Passagen über Struktur, Personal, Aufgaben und Arbeitsweise von Stalins Geheimapparat beigemischt sind.
Die Frage, ob und inwieweit die Mitarbeiter des Geheimapparats Stalins Denken und seine Entscheidungen beeinflussen konnten, muss Rosenfeldt mangels stichhaltiger Belege offen lassen. Er kommt zu dem (vorhersehbaren) Schluss, Geheimabteilung und Besonderer Sektor seien für Stalin unverzichtbar gewesen, um die an der Parteispitze massenhaft auflaufenden Informationen zu ordnen, auszuwerten, zu synthetisieren und in den Entscheidungsprozess einzuspeisen. Diese alles in allem eher unspektakuläre, ja beinahe banale Erkenntnis steht in eklatantem Gegensatz zum zügellos ausufernden Umfang des Werkes, dessen Lektüre mehr Geduld erfordert, als mancher Leser aufzubringen bereit sein mag. Ärgerlich ist auch der Umstand, dass die Anmerkungen des ersten Bandes im zweiten Band nachgeschlagen werden müssen.
Andreas Oberender, Berlin
Zitierweise: Andreas Oberender über: Niels Erik Rosenfeldt The „Special” World. Stalin’s power apparatus and the Soviet system’s secret structures of communication. Museum Tusculanum Press Copenhagen 2009. Vol. 1: 633 S.; Vol. 2: 520 S. ISBN: 978-87-635-0773-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 627–629: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Oberender_Rosenfeldt_Special_World.html (Datum des Seitenbesuchs)