Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  617–618

Stefan Creuzberger Stalin. Machtpolitiker und Ideologe. Verlag W. Kohlhammer Stuttgart 2009. 343 S., Abb., Ktn. = Kohlhammer-Urban-Taschenbücher, 593. ISBN: 978-3-17-018280-6.

Je weiter die Stalin- und Stalinismusforschung voranschreitet, desto größer wird die Notwendigkeit, die Erträge wissenschaftlicher Arbeit in einer für das nichtakademische Publikum und die Novizen des Faches verständlichen Weise aufzubereiten und zusammenzufassen. Dieser Aufgabe hat sich Stefan Creuzberger gestellt. Seine schlanke biographische Studie über den sowjetischen Diktator richtet sich ausdrücklich an Studierende und historisch interessierte Laien, ist aber gleichwohl mit einem detaillierten Anmerkungsapparat und einer gehaltvollen Bibliographie ausgestattet. Der in drei Teile gegliederte Band möchte in enger Anbindung an die aktuelle Forschung ein Bild vom „politischen“ Stalin entwerfen; dabei sollen der „Innen­politiker“ und der „Außenpolitiker“ Stalin gleichwertige Berücksichtigung finden. Der erste Teil behandelt Stalins Jugend im Kaukasus und seine Parteikarriere bis zur Oktoberrevolution; der zweite schlägt einen Bogen von den Diadochenkämpfen nach Lenins Tod über Stalins „Revolution von oben“ und den Terror bis hin zum Zweiten Weltkrieg und zur Nachkriegszeit. Der dritte Teil schließlich ist der Außenpolitik gewidmet, unter Beschränkung auf die Beziehungen der Sowjetunion zu Deutschland und China. Ob ausgerechnet die sowjetisch-chinesischen Beziehungen für Studierende und Laien von vordringlichem Interesse sind, mag bezweifelt werden. Stalins Privatleben wird gänzlich ausgeblendet; auch das eigentümliche Kreml’-Milieu und die Gefolgsleute des Diktators werden nur ansatzweise greifbar.

Creuzberger geht eklektisch und stellenweise er­staunlich unreflektiert zu Werke. Einen eigenständigen Ansatz verfolgt er nicht; ebenso wenig hat er ein prägnantes Konzept für die Deutung Stalins und seiner Herrschaft. Unbekümmert montiert Creuzberger aus Einzelteilen, die ihm die neueste Forschung zur Verfügung stellt, sein Bild von Stalin und vom Stalinismus zusammen, ohne auf die Stimmigkeit des Endprodukts zu achten. Untersuchungen zur Kulturrevolution und zur Kollektivierung, zum Großen Terror, zu Stalins politischem Denken und zur Nationalitätenpolitik sind für ihn eine Art Gemischtwarenladen, aus dem er sich wahllos und ohne erkennbares System bedient. Garantiert dieses Verfahren, dass am Ende ein schlüssiges Stalin-Bild entsteht? Jeder prominente Stalinforscher wird an der einen oder anderen Stelle als Kronzeuge aufgerufen; keiner von ihnen wird sich beklagen können, ignoriert worden zu sein. Mal tritt Stalin als Produkt der kaukasischen Peripherie in Erscheinung, als Rebell gegen die russische Fremdherrschaft (Rieber, Suny), mal als Staatsschöpfer und Modernisierer, der sich russifiziert hat und Iwan dem Schrecklichen und Peter I. nachstrebt (Tucker). Die stalinistische Gewaltherrschaft wird als Versuch erklärt, „Ambivalenz zu überwinden und Eindeutigkeit herzustellen“ (Baberowski). Selbst problematische Beiträge der neueren Forschung wie Erik van Rees These von Stalins „jakobinischem Marxismus“ werden unkritisch übernommen. Prompt gerinnt der Große Terror zur Umsetzung „jakobinischer Prinzipien“. Was soll gerade der unkundige Leser mit solchen Verlautbarungen anfangen, die grandios klingen, doch ohne verständnisfördernde Hintergrundinformationen präsentiert werden? Sind die Auffassungen der genannten Autoren wirklich problemlos kompatibel? Unbesehen wird auch die Auffassung der Bol’ševiki übernommen, die Peripherie des Sowjetreiches sei ‚rückständig‛ gewesen. Manche Themen werden angerissen, aber nicht konsequent weiterverfolgt. So wird der „Nationalitätenexperte‟ Stalin mit Worten aus dem Jahre 1920 zitiert, wonach den sowjetischen Muslimen das Recht zustehe, auch künftig ihr angestammtes Brauchtum und die Scharia zu praktizieren. Damit lässt es Creuzberger bewenden. Dass und warum sich diese trügerische Toleranz schon wenige Jahre später auf blutige Weise in ihr Gegenteil verkehrte, wird dem Leser vorenthalten. Es wird der irreführende Eindruck vermittelt, nur russische Bauern seien Opfer der Kulturrevolution geworden. Und was widerfuhr den sowjetischen Muslimen im Zuge der „Herstellung von Eindeutigkeit“?

Daneben veranschaulicht der Band die Schwierigkeit des Unterfangens, dem Phänomen Stalin auf nur 235 Textseiten gerecht werden zu wollen. Die sicher vom Verlag vorgegebene Beschränkung des Umfangs führt zu einem Maß an Verkürzung und Verknappung, das den Wert des ganzen Buches in Frage zu stellen droht. Wichtige Aspekte von Stalins Werdegang und politischem Wirken werden mit nur wenigen Sätzen gestreift oder gar nicht erst erwähnt, so etwa die Teilnahme am Bürgerkrieg, die forcierte Industrialisierung der Sowjetunion, die Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam, Stalins Beziehungen zu den Parteiführern der Ostblockstaaten, seine Ambitionen als Ideologe und Theoretiker und die Erscheinungsformen des Stalin-Kultes. Wer darüber Genaueres erfahren möchte, sieht sich genötigt, anderswo nachzuschlagen. Creuzberger spricht viel von Gewalt und Außenpolitik, aber durch die Aussparung des Bürgerkrieges und der Kriegs- bzw. Nachkriegsdiplomatie vergibt er sich die Möglichkeit, dem Leser Stalin als Gewalttäter und außenpolitischen Akteur vorzuführen. Das Buch, das eine biographische Darstellung zu sein beansprucht, enthält keine einzige Anekdote, die Stalin als Menschen greifbar macht und einen plastischen Eindruck von der Vulgarität seiner Umgangsformen vermittelt, von seiner zusammengestückelten Halb- oder wohl eher Viertelbildung, seinem Analphabetentum in Wirtschaftsfragen, seiner Verachtung für die bürgerlichen Träger von Bildung und Sachverstand, seiner Spionage- und Sabotagemanie, seiner Bereitschaft, selbst Familienangehörige und langjährige Weggefährten töten zu lassen. Sein Charakterbild wird auf „pathologisches Misstrauen“ reduziert. Der Verweis auf Stalins „ausgeprägten Willen zur Macht“ und seinen „ungezügelten Machiavellismus“ erinnert an die Klischees der älteren Literatur.

Hinzu kommen sprachliche und stilistische Fehlgriffe. Im Bestreben, Stalins Gewaltherrschaft mit deutlichen Worten zu verurteilen, trägt Creuzberger gelegentlich etwas zu dick auf und gestattet sich verunglückte, naiv anmutende Wortschöpfungen wie „zügellose Skrupellosigkeit“ oder auch „grenzenlose Hemmungslosigkeit“. Adjektive wie „gnadenlos“, „grausam“, „brutal“ und „monströs“ werden einige Male zu oft verwendet und nutzen sich daher rasch ab. Wiederholt finden sich nachlässige, mitunter unfreiwillig erheiternde Formulierungen wie etwa die, „man“ habe in Moskau „überaus ratlos“ auf den deutschen Überfall reagiert. Muss wirklich eigens betont werden, dass der deutsche Angriff „heimtückisch“ erfolgte? Und ist es statthaft, von dem „schrecklichen Drumherum“ zu sprechen, unter dem die Sowjetbürger während des Großen Terrors 1937/38 zu leiden hatten? Stalins Zugehen auf die orthodoxe Kirche nach Kriegsbeginn wird gar zur „Charme- und Toleranzoffensive“ verklärt. Befremden löst auch die Formulierung aus, Stalin habe sich durch „Schaffenskraft und Entscheidungsfreudigkeit“ ausgezeichnet. Wer über Stalin schreibt, sollte seine Worte sorgfältiger wählen. Das Buch ist allenfalls für die erste Beschäftigung mit Stalin und seiner Herrschaft geeignet. In der Vermittlung von Fakten zuverlässig, leidet es doch unter der Kurzatmigkeit der im Eiltempo voranschreitenden Darstellung. Es hätte seinen Zweck erfüllt, wenn es beim Leser Neugierde und Bereitschaft weckt, sich durch weiterführende Lektüre ein fundierteres Bild des sowjetischen Diktators zu erarbeiten.

Andreas Oberender, Berlin

Zitierweise: Andreas Oberender über: Stefan Creuzberger: Stalin. Machtpolitiker und Ideologe. Verlag W. Kohlhammer Stuttgart 2009. = Kohlhammer-Urban-Taschenbücher, 593. ISBN: 978-3-17-018280-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 617–618: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Oberender_Creuzberger_Stalin.html (Datum des Seitenbesuchs)