Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 4, S. 621-622

Verfasst von: Dmytro Myeshkov

 

Eva Maeder / Peter Niederhäuser: Von Zürich nach Kamtschatka. Schweizer im Russischen Reich. Zürich: Chronos, 2008. 231 S., Abb. = Mitteilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich, 75. ISBN: 978-3-0340-0891-4.

Der vierzehn Beiträge umfassende Sammelband knüpft an umfangreiche Vorarbeiten aus der Reihe „Beiträge zur Geschichte der Russlandschweizer“ an, wobei die Herausgeber erklären, sich „als Ergänzung zu den mehr strukturell orientierten Dissertationen“, die bisher unter Betreuung von C. Goehrke entstanden sind (S. 8), auf Einzelschicksale von Zürcher Industriellen, Händlern, Künstlern, Pastoren usw. in Russland konzentrieren zu wollen.

Im einleitenden Überblick von R. Mumenthaler werden sowohl der Anteil von Zürchern unter den Russlandschweizern als auch die soziale und berufliche Zusammensetzung dieser Gruppe sowie die Gründe für die Aus- bzw. Rückwanderung analysiert. Während sich die Auswanderung aus der Schweiz nach Russland meistens als Einzel- bzw. Elitenwanderung beschreiben lässt, war die Aussiedlung von Bauern infolge einer Hungersnot Anfang des 19. Jahrhunderts eine typische Gruppenwanderung. N. Rütsche gibt einen kur­zen Abriss der Entwicklung der infolge dieser Wanderung entstandenen Kolonie Zürichtal (Krim) von ihrer Gründung bis zur Deportation 1941. Die Geschichte der Kolonie wird isoliert von der Außenwelt als eine geradlinige Erfolgsgeschichte gezeigt; so bedarf Rütsches Behauptung, Zürichtal sei schnell zur wohlhabendsten und vornehmsten Kolonie auf der ganzen Halbinsel geworden (S. 27) ausführlicherer Begründung. Ganz zu Recht sind auch die Beiträge über Johannes von Muralt (E. Mae­der) und Florian Gille (G. Pavlova) in den ersten Teil des Sammelbandes eingegangen, denkt man an die Schlüsselrolle von Pfarrer von Muralt in der schweizerischen Gemeinde Russlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und an die Spuren, die der Letztere durch seine Arbeit in der Eremitage hinterlassen hat.

Der Zürcher Mathematiker und Naturwissenschaftler J. K. Horner ist die zentrale Figur des nächsten Abschnitts mit drei Beiträgen. Während S. Brändli einen allgemeinen Überblick zum seinen Lebenswerk liefert, befasst sich R. Mumenthaler mit der Teilnahme Horners an der Weltumsegelung Krusensterns (1803–1806). Trotz vieler attraktiver Angebote wollte Horner nicht in Russland weiterarbeiten und verließ das Land sofort nachdem der Reisebericht fertig war. Sein wissenschaftlicher Beitrag zum Erfolg der Expedition bleibt unumstritten, was auch die Untersuchung von G. Bucher zu ethnographischen Sammlungen aus Sibirien und dem Fernen Osten in europäischen Museen u. a. nochmals deutlich macht.

Wie Horner konnten auch schweizerische Künstlern, die in der Hoffnung, sich dort entfalten zu können, nach Russland auswanderten, nur in beschränktem Maße Kontakte aufbauen. Wie am Beispiel von H. J. Oeri (Beitrag von V. von Fellenberg) und J. Chr. Miville (Beitrag von H. Chr. Ackermann und K. Herlach) gezeigt wird, suchten viele von ihnen mit mehr oder weniger Erfolg Anstellung beim russischen Adel; sie hatten einen engen Bekanntenkreis, und so bleibt in ihren spärlich überlieferten Selbstzeugnissen die russische Wirklichkeit weitgehend ausgeklammert.

Vier Familiengeschichten, die den letzten Teil des Bandes ausmachen, scheinen für das Anliegen der Herausgeber, das Leben zwischen der Schweiz und Russland in „europäischer Dimension“ (S. 166) zu zeigen, am besten geeignet zu sein. In der zweiten Hälfte des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts veränderte sich die berufliche Zusammensetzung der Schweizer in Russland; nun dominierten Ingenieure und Kaufleute. Zudem lebten viele Schweizerfamilien jetzt schon seit mehreren Generationen in Russland; ihre Beziehungen zur Umwelt waren mit der Zeit viel enger geworden. Manche suchten ihr Glück weit draußen in der Provinz, und das nicht nur in Städten (wie J. A. Lambert im Beitrag von A. Lambert), sondern auch auf dem Land (A. von Schulthess Rechberg im Beitrag von K. Huser). Auch Kontakte über die Grenzen hinweg wurden immer intensiver und erreichten am Vorabend des Ersten Weltkrieges ein bisher ungekanntes Ausmaß: man besuchte sich gegenseitig im Urlaub, schickte Kinder zum Hochschulstudium in die Schweiz (und nach Deutschland), reiste geschäftlich in beide Richtungen. Unter Menschen, die aus beruflichen oder persönlichen Gründen Russland verlassen mussten, wurden Kontakte, Erinnerungen und russische Sprache gepflegt – so wie in der Familie einer der Töchter des Sareptaer Unternehmers Glitsch, die nach Winterthur heiratete und ihre Beziehungen zur Heimat danach lebenslang pflegte (Beitrag von L. H. Achtnich-Glitsch). Für viele aus der Gemeinde der Russlandschweizer wurde Russland zur zweiten Heimat; umso schmerzhafter sollte für sie die erzwungene Rückwanderung sein, die noch vor dem Ende des Ersten Weltkrieges zur fast vollständigen Auflösung der Schweizerkolonie in Russland führte.

Trotz seines regionalen Bezugs ist der Sammelband auch einem breiteren Publikum zu empfehlen, vor allem denen, die sich für das Thema Ausländer in Russland im „langen“ 19. Jahrhundert interessieren.

Dmytro Myeshkov, Freiburg i.Br./Düsseldorf

Zitierweise: Dmytro Myeshkov über: Eva Maeder / Peter Niederhäuser: Von Zürich nach Kamtschatka. Schweizer im Russischen Reich. Zürich: Chronos, 2008. 231 S., Abb. = Mitteilungen der antiquarischen Gesellschaft in Zürich, 75. ISBN: 978-3-0340-0891-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Myeshkov_Maeder_Niederhaeuser_Von_Zuerich_nach_Kamtschatka.html (Datum des Seitenbesuchs)

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