Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 3, S. 447-448

Verfasst von: Christian Münch

 

Dirk Uffelmann: Der erniedrigte Christus. Metaphern und Metonymien in der russischen Kultur und Literatur. Köln [u.a.]: Böhlau, 2010. XI, 1046 S. = Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen, 62. ISBN: 978-3-412-20214-9.

Dirk Uffelmanns kultur- und literaturwissenschaftliche Arbeit, die 2005 an der Universität Bremen als Habilitationsschrift vorgelegt wurde, eröffnet ein „Panorama altostslavischer, russischer und sowjetischer Kenosis-Vorstellungen“. Als „Kenosis“ (eigtl. „Entleerung“) wird in der Sprache der Theologie die Selbstentäußerung Christi bezeichnet, d. i. der Verzicht des Gottessohnes auf die göttliche Herrlichkeit zugunsten des Daseins als Mensch in Sklavengestalt. Der Begriff geht auf den Christushymnus zurück, den Paulus in seinem Brief an die Philipper zitiert und der die Erscheinung Christi als Doppelbewegung der Erniedrigung und nachfolgenden Erhöhung beschreibt (Phil 2,6–11). In metaphorischen und metonymischen Ausgestaltungen hat sich dieses christologische Modell, wie Uffelmann im Anschluss an Georgij Fedotov zeigt, in der russischen Kulturgeschichte „ausgefaltet“ und in „Fleisch, Bild und Wort“ vielfältig materialisiert.

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: einen christologisch-rhetorischen Teil, der den Diskurs der kenotischen Christologie mit Mitteln der Rhetorik, der Zeichen- und Sprechakttheorie analysiert; einen kulturhistorischen Teil, der die Entwicklung des kenotischen Modells in der russischen Geschichte vom 9. bis ins 20. Jahrhundert nachzeichnet; und einen literaturanalytischen Teil, der fünf ‚weltliche‘, christentumsferne Texte aus der russischen und sowjetischen Literatur auf kenotisch-christologische Strukturen hin untersucht.

Der erste, präliminarische Teil setzt beim Philipperhymnus an und bietet einen vom kulturgeschichtlichen Zusammenhang weitgehend abgekoppelten „Parcours durch die kenotische Christologie“. Besondere Berücksichtigung finden die dogmatischen Streitigkeiten der Alten Kirche und die Entscheidungen der Ökumenischen Konzile. In deren Kontext werden die antirhetorischen Implikationen der kenotischen Christologie herausgearbeitet, die in der Rhetorikkritik des Paulus wurzeln und sich in einem „antirhetorischen ‚Realismus‘“ und einer „Rhetorik des Paradoxes“ äußern. Letztere ist namentlich bei Kyrill von Alexandrien ausgeprägt, dessen „Paradox von Niedrigkeit und Höhe mit Zeitneutralisierung“ sich auf dem Konzil von Chalkedon durchsetzte. Im dogmatischen Paradox, „das die Ökumenischen Konzilien im Rückgriff auf das paulinische Kenose-Motiv definierten“, sieht Uffelmann „das unsichtbare Zentrum“ der orthodoxen Christologie (S. 144). Im Anschluss an diese These liefert er einen semiotischen Aufriss der Materialisierungen der Christologie in Habitus, Leib, Bild und Wort (S. 174–241).

Der zweite Teil untersucht, in welchen Überlieferungsmedien sich das christologisch-kenotische Modell in Russland verbreitete und welche Wandlungen es dabei durchlief. Kenotische Muster von Christus über Christusmetonymien zu Christusmetaphern werden in folgenden Gattungen und Praktiken eruiert: in der sakralen Literatur und ihren säkularen Transformationen, in der Theologie und Religionsphilosophie, in der liturgischen und alltäglichen Praxis sowie in der orthodoxen Ikonographie und weltlichen Malerei (S. 272–449). In seinem „Medienparcours zeichnet Uffelmann u.a. nach, wie sich aus der dogmatischen und asketischen Übersetzungsliteratur in der russischen Theologie ab dem späten 18. Jh. eine kenotische Christologie entwickelte, deren privilegierter Ort am Rande der Kirche lag. Besondere Aufmerksamkeit schenkt der Autor der kenotischen Dimension im Denken von (Laien-)Theologen und Religionsphilosophen wie Chomjakov, Bucharev, Solov’ev, Tareev und Bulgakov. Ihnen verdankt die russische Kenotik ihren größten Aufschwung, bevor ihre Welle nach der sowjetischen Zäsur wieder abebbte. Ein eigenes Kapitel ist dem Trägermedium „personales Exempel“ gewidmet (S. 455–591): Dazu gehören kenotische Habitusmodelle von Märtyrern und Leidenden, Mönchen und Asketen, inoffiziellen und antioffiziellen Christusnachfolgern sowie von „Opfern als Tätern“ und „Tätern als Opfern“ (Heroen, Herrschern, Soldatenmönchen und Revolutionären). Zwischen den traditionellen christlichen und den revolutionären, christentumsfernen Habitusmodellen stellt Uffelmann keinen Geschichtsbruch fest. Stattdessen plädiert er für eine „säkular-sakrale Doppellesbarkeit“ und zeigt, dass weder in der Zaren- noch in der Sowjetzeit eine klare Trennlinie zwischen revolutionär-sozialistischen und christologisch-kenotischen Deutungsmustern bestand. Die Geschichte des Kenosis-Modells beschreibt er als einen „Prozess der ,Entähnlichung‘“, der vom sich erniedrigenden Christus im Philipperbrief über Mönchsheilige bis zu atheistischen Revolutionären führt und sogar das paradoxe Phänomen von Mördern einschließt, welche die Nachfolge des ermordeten Christus für sich in Anspruch nehmen (S. 578).

Der dritte Teil schließlich behandelt christentumsferne Texte aus der weltlichen russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts und versucht an ihrem Beispiel zu zeigen, dass die (sozialistischen) Gegenströmungen in einer nicht-offiziellen Weise am christologischen Modell partizipierten. Untersucht werden kenotische Figuren aus folgenden fünf Werken: Černyševskijs sozialistischem Thesenroman „Was tun?“ (1863), Gor’kijs proletarischem Bildungsroman „Die Mutter“ (1907), Nikolaj Ostrovskijs sozrealistischem Musterroman „Wie der Stahl gehärtet wurde“ (1935), Venedikt Erofeevs Alkoholiker-Poem „Moskau-Petuški“ (1969) und Sorokins konzeptualistischem Text „Marinas dreißigste Liebe“ (1984). Anhand dieser Texte demonstriert der Verfasser, dass das kenotische Muster auch in nichtchristlichen Bereichen der russischen Kultur produktiv geblieben ist und im weiten Feld von Habitus und Rhetorik „säkular-christliche Doppellesarten“ ermöglicht.

Uffelmann ist es gelungen, Fedotovs These von der russischen kenotischen Tradition in unterschiedlichsten Bereichen der russischen Kultur zu belegen und innovativ weiterzuführen. Seine Arbeit beeindruckt durch umfassende Gelehrsamkeit, ein breites Spektrum an Materialien, eine enzyklopädische Fülle von Informationen sowie eine theoretisch und methodisch reflektierte Basis. Der wesentliche Forschungsbeitrag liegt im Aufzeigen der vielfältigen Transformationen, die das kenotische Modell in der russischen Kulturgeschichte durchlief, und damit im Nachweis der Relevanz des Themas auch für säkularisierte Bereiche der russischen Kultur. Jedoch dürfte Uffelmanns „unähnliche Fortschreibung“, bei der die tertia comparationis wechseln und die funktionalen Analogien mit genealogischen Verbindungen zusammengedacht werden, für manche Historiker eine Provokation darstellen. Denn sie spannt einen abenteuerlichen Bogen von der Kenosis Christi im Philipperbrief bis zu Marinas „kenotischem Orgasmus“ in Sorokins Text. Mögen solche „ähnlich-unähnliche Bezüge“ auch originell und begründet sein, sie erscheinen letztlich gar weit hergeholt.

Als nicht unproblematisch erweist sich auch die Unschärfe mancher Termini, z. B. der Begriffe „Rhetorik“ und „Antirhetorik“, die zuweilen missverständlich verwendet werden (u. a. in Bezug auf Paulus, der sich wohl kaum gegen die Rhetorik in genere wandte, sondern gegen bestimmte Praktiken und Methoden antiker Rhetoren und Sophisten). Ferner empfiehlt es sich, die „Selbsterniedrigung Christi“ nicht als „Dogma“ (S. 54), sondern als „Theologumenon“ zu bezeichnen. An die Leser stellt die Darstellung schließlich hohe Ansprüche: Sie ist terminologisch dicht (bes. in Kap. 2), verliert sich mitunter in Details und Nebensächlichkeiten, ist in viele, z. T. nur lose zusammenhängende Unterkapitel zerstückelt, bietet keine Zusammenfassungen und ist mit rund tausend Seiten zu lang geraten. Doch lässt sich das Buch auch auszugsweise lesen, vor allem der dritte Teil, dessen Textanalysen ungeachtet der christologischen Bezüge sehr gewinnbringend sind.

Christian Münch, Bern

Zitierweise: Christian Münch über: Dirk Uffelmann: Der erniedrigte Christus. Metaphern und Metonymien in der russischen Kultur und Literatur. Köln [u.a.]: Böhlau, 2010. XI, 1046 S. = Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen, 62. ISBN: 978-3-412-20214-9, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Muench_Uffelmann_Der_erniedrigte_Christus.html (Datum des Seitenbesuchs)

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