Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 162-164

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Martin Lutz: Siemens im Sowjetgeschäft. Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen 19171933. Stuttgart: Steiner, 2011. 391 S. = Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte, 1. ISBN 978-3-515-09802-1.

Diese kluge und theoretisch wohlfundierte Dissertation zum deutschen Handel mit der Sowjetunion während der Weimarer Republik wendet sich an Leser mit einem Interesse für Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte. Der Autor Martin Lutz wählt für seine Fallstudie die Firma Siemens als Beispiel aus, die vor dem Ersten Weltkrieg mit ihren russischen Töchterunternehmen den Elektromarkt des Zarenreichs dominiert hatte und nach der Oktoberrevolution im besten Jahr immerhin fast sieben Prozent ihres Umsatzes mit dem Export in die UdSSR erzielen konnte. Traditionellerweise wird der deutsche Außenhandel mit der Sowjetunion quasi als eine Verlängerung der Außenpolitik gesehen. Lutz gelingt es jedoch am Beispiel Siemens überzeugend, die ökonomische Eigendynamik des Handels zu belegen, wenn er auch ohne staatliche Hilfe – also Ausfallbürgschaften – kaum einen größeren Umfang hätte erreichen können.

Wie der Titel bereits andeutet, nutzt der Verfasser einen institutionellen Zugang – die Neue Institutionenökonomie, deren wahrscheinlich prominentester Vertreter der Nobelpreisträger Douglass C. North ist und die sich in den letzten beiden Jahrzehnten in der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte besonderer Beliebtheit erfreut. Anders als in manchen Qualifikationsarbeiten erläutert der Autor seine theoretische Vorgehensweise nicht nur ausführlich in der umfangreichen Einleitung, sondern er wendet sie auch konsequent im Hauptteil an. Dabei versucht er erfolgreich die zugrundeliegende Theorie um eine akteurszentrierte Vorgehensweise zu erweitern, indem er das Verhalten einzelner Schlüsselpersonen analysiert. Hierfür eignet sich das Beispiel Siemens besonders gut, da auch auf sowjetischer Seite einige ehemalige Siemens-Mitarbeiter agierten wie der Volkskommissar für Außenhandel, Leonid Krasin.

Die Studie ist klar strukturiert und der Verfasser verwendet viel Mühe, um den Rahmen ausführlich zu erläutern, sei es der historische, der wirtschaftliche, der außenpolitische oder der theoretische. Auf eine umfangreiche Einleitung folgt ein längerer empirisch-narrativer Teil, an den sich eine auf der Neuen Institutionenökonomie basierende Analyse anschließt, wobei es zu einzelnen Wiederholungen kommt. Schließlich fasst der Autor seine Ergebnisse zusammen. Lutz schreibt in einem gut verständlichen Stil, nur manchmal neigt er dazu, Fremdwörter oder englischsprachige Fachausdrücke zu verwenden, wenn diese nicht nötig wären.

Obwohl der Verfasser sowohl deutsche als auch sowjetische Quellen verwendet und seine Studie auch auf einer breiten Literaturkenntnis basiert, gelingt es ihm weitaus besser, die Perspektive der deutschen Akteure herauszuarbeiten, als diejenige der sowjetischen. Dies mag jedoch auch durch die Quellenlage bedingt sein. Den letzteren unterstellt er wiederholt ein vornehmlich ideologisches Handeln. Doch möglicherweise agierten sie im Rahmen ihres Wirtschaftsmodells ebenso zweckrational und pragmatisch wie die Siemens-Vertreter. Die gemischte Wirtschaft der Neuen Ökonomischen Politik oder die Kommandowirtschaft des frühen Stalinismus verfügten eben über eine andere Logik als das Wirtschaftsmodell der Weimarer Republik.

Der wirtschaftsgeschichtlich interessierte Leser vermisst ein wenig quantitative Angaben und Statistiken. Diese werden nur relativ spärlich eingesetzt. Die Daten zum sowjetischen Außenhandel in mehreren Tabellen stammen aus einer sowjetischen Publikation von 1960, und es stellt sich die Frage, wie zuverlässig diese ist. Umsatzzahlen und Gewinne bzw. Verluste aus dem Handel von Siemens mit der Sowjetunion hat der Verfasser rekonstruiert (S. 158159), doch man möchte gern mehr erfahren. Gab es eine Art Risikoprämie für den Osthandel, wurde also ein höherer Gewinn wegen der unsicheren Rahmenbedingungen einkalkuliert? Wie verhalten sich die Erträge aus dem Handel mit der UdSSR zum Gesamtgewinn?

Trotz dieser kleinen Einwände ist Lutz eine beeindruckende Studie gelungen, deren theoretischer Anspruch auch für andere, vergleichbare Untersuchungen vorbildlich sein sollte. Siemens konnte auch nach dem Regimewechsel in Russland an alte Kontakte und Erfahrungen anknüpfen; trotzdem blieb der sowjetische Markt eher marginal für das Unternehmen mit der Ausnahme der Periode der Weltwirtschaftskrise. Beide Seiten hätten von einem intensiveren Handel profitieren können, doch aus verschiedenen institutionellen, ökonomischen und politischen Gründen ließ sich dies nicht umsetzen. Die Machtübernahme Hitlers beendete nicht über Nacht diese Geschäftsbeziehungen. Sowohl Siemens als „transnationaler Akteur“ (Lutz) als auch einzelne Persönlichkeiten spielten eine wichtige Rolle. Dies rechtfertigt die vorgenommene aukteurszentrierte Erweiterung der Neuen Institutionenökonomie. Im Untersuchungszeitraum erfolgte ein enormer institutioneller Wandel, an den sich beide Seiten anpassen mussten, was wiederum die Auswahl der theoretischen Grundlage als besonders gelungen erscheinen lässt.

Dieses Buch stellt eine anspruchsvolle und anregende Lektüre dar. Für Leser ohne entsprechende Vorkenntnisse ist es sicherlich nicht einfach, der Argumentation im Detail zu folgen, obwohl der Autor viel Aufwand für ausführliche Erläuterungen verwendet. Trotzdem kann der Verfasser nur gelobt werden für sein Bemühen, sich ernsthaft um eine fundierte theoretische Grundlage für seine Untersuchung zu bemühen.  

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Martin Lutz: Siemens im Sowjetgeschäft. Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917–1933. Stuttgart: Steiner, 2011. 391 S. = Perspektiven der Wirtschaftsgeschichte, 1. ISBN 978-3-515-09802-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Lutz_Siemens_im_Sowjetgeschaeft.html (Datum des Seitenbesuchs)

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