Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 1, S. 161-162

Verfasst von: Olaf Mertelsmann

 

Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Claudia Weber (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg. Hamburg: Hamburger Edition, 2010. 528 S. = Studien zum Kalten Krieg, 4. ISBN 978-3-86854-225-7.

Der vorliegende umfangreiche Sammelband mit hochkarätigen und international bekannten Autoren erscheint zum richtigen Zeitpunkt. In der Tat, auch rund zwei Jahrzehnte nach Ende des Kalten Krieges wissen wir noch relativ wenig über die wirtschaftliche Seite dieses Konflikts. Umso mehr verwundert es einen, dass unter den 25 Beiträgen nur eine Minderheit eine klare wirtschaftshistorische Ausrichtung hat. Dies muss nicht unbedingt ein Mangel sein, doch hätte der Leser angesichts des Titels mehr fundierte Wirtschaftsgeschichte mit den entsprechenden quantitativen und statistischen Angaben erwartet.

Das Niveau der Aufsätze ist insgesamt hoch, doch fehlt ein wenig der rote Faden. Bernd Greiner gelingt es in seiner Einleitung nicht, alle Beiträge auf einen Nenner zu bringen, und so stehen sie trotz aller Qualitäten eher isoliert voneinander im Raum. Da Wirtschaftsarchive weniger sensibel sind als Militärarchive und deshalb im Regelfall besser zugänglich, überrascht es ein wenig, dass nur eine Minderzahl der Aufsätze auf Archivrecherchen der Verfasser beruht. Der Schwerpunkt der Darstellungen konzentriert sich auf den späten Kalten Krieg, doch aus wirtschaftshistorischer Sicht erscheint gerade der Übergang von der Kriegswirtschaft des Zweiten Weltkriegs und vom Nachkriegswiederaufbau hin zur Wirtschaft des Kalten Krieg als fast schon interessanter als die Spätphase. Bekanntlich durchlief beispielsweise Sowjetunion eine schwere Nachkriegskrise einschließlich einer letzten großen Hungersnot, doch über diese Phase erfahren wir insgesamt zu wenig. Weiterhin findet die spannende ökonomische Integration ehemaliger Kriegsgegner in Ost und West keine Berücksichtigung.

Der Band ist in drei Teile geteilt, der erste widmet sich der sogenannten Dritten Welt. So löblich das Bemühen ist, die Länder an den Anfang zu stellen und angemessen zu behandeln, so sehr muss der weitgehend bipolare Zugang dieses Sammelbandes kritisiert werden. Es geht mit wenigen Ausnahmen nämlich um die Aktivitäten der beiden Supermächte in dieser Region. Es fehlen Fallstudien dazu, wie Großbritannien oder Frankreich sich im Kontext des Kalten Krieges sowie der Dekolonialisierung gegenüber ihren ehemaligen Kolonien verhielten und versuchten, informelle ökonomische Imperien aufzubauen. Als positiv sollte erwähnt werden, dass sowohl China als auch ökologische Fragen wiederholt thematisiert werden.

Der zweite Teil behandelt die ökonomischen Auswirkungen des Kalten Krieges auf die Zentren – die USA und die UdSSR. An dieser Stelle stört der bipolare Zugang am stärksten, wenn auch die Beiträge zu den beiden Staaten selbst solide sind. Warum werden West- und Osteuropa sowie die neutralen Staaten ausgespart? Die Historiographie zum Kalten Krieg hat sich in den letzten Jahren immer stärker dahin bewegt, von einer Vielzahl von Spielern, die auf unterschiedlichen Ebenen miteinander agierten, auszugehen. Der vorliegende Band reduziert die Realität wieder auf nur zwei Supermächte. Ein wenig verwundert es, dass sowohl die USA als auch die UdSSR trotz immenser Verteidigungsausgaben ökonomisch kaum unter dem Kalten Krieg gelitten haben sollen (Fordham, Gregory). Bezüglich der sowjetischen Ökonomie besteht noch das Problem, dass wir nur über sehr grobe Schätzungen der Wirtschaftsleistung verfügen, von denen die beste diejenige des CIA eben aus dem Kalten Krieg ist. Auf diese eher vorläufigen Daten beziehen sich wiederholt auch die Verfasser der entsprechenden Beiträge. Die Einbeziehung anderer Staaten, seien sie Mitglied der NATO, des Warschauer Paktes oder neutral, wäre dringend angeraten gewesen, um der Enge einer bipolaren Perspektive zu entkommen.

Der dritte Teil thematisiert den Handel während des Kalten Krieges. Wir erfahren, dass der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe praktisch gescheitert ist (Dangerfield) und lesen auch über verschiedene Beispiele des West-Ost-Handels sowie über Handelsbeschränkungen. Es fehlt jedoch ein Beitrag über die ökonomische Integration Westeuropas! Diese wird anscheinend für so selbstverständlich gehalten, dass ihre Geburt im Kalten Krieg nahezu übersehen wird.

Der vorliegende Band liefert sicherlich viele neue Einblicke in die Wirtschaft im Kalten Krieg, und eigentlich ist das Thema zu umfangreich, um es zwischen zwei Buchdeckeln erschöpfend zu behandeln. Leider wurden einige wichtige Aspekte wie der frühe Kalten Krieges oder die wirtschaftlichen Auswirkungen auf andere Industriestaaten außer der UdSSR und den USA ausgeklammert. Es wäre besser gewesen, auf einige Fallstudien zu verzichten und das Gesamtbild stärker zu betonen. Wirtschaftshistoriker sprechen seit langem von einem „goldenen Zeitalter“ des Westens in den Jahren von 1950 bis 1973, in dem das Wirtschaftswachstum ein nie zuvor und danach erlebtes Tempo erreicht und damit auch den Alltag tiefgreifend transformiert hat. In Osteuropa können wir eine ähnliche Phase in der Zeit von etwa 1955 bis 1975 ausmachen. Der zu besprechende Band geht jedoch auf diese außerordentlichen Wachstumsphasen und ihr Verhältnis zum Kalten Krieg praktisch nicht ein.

Trotz aller Kritik handelt es sich um einen lesenswerten Sammelband, der unser Wissen über die Wirtschaft im Kalten Krieg deutlich erweitert. Der Verzicht auf einige detaillierte Fallstudien und ein stärkerer Blick auf das Gesamtbild hätten dieser Publikation allerdings nicht geschadet. Festzustellen bleibt, dass wir erst am Anfang der Untersuchung dieses Themas stehen und die Archive sicherlich noch einige Überraschungen enthalten. Weiterhin benötigen wir für die ehemals sozialistischen Länder dringend zuverlässigere Wirtschaftsstatistiken.

Olaf Mertelsmann, Tartu

Zitierweise: Olaf Mertelsmann über: Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Claudia Weber (Hrsg.): Ökonomie im Kalten Krieg. Hamburger Edition, Hamburg 2010. 528 S. = Studien zum Kalten Krieg, 4. ISBN 978-3-86854-225-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Mertelsmann_Greiner_Oekonomie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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