Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 3, S. 468-471
Bernd Faulenbach, Franz-Josef Jelich (Hrsg.) „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989. Klartext Verlag Essen 2006. 416 S. = Geschichte und Erwachsenenbildung, 21. ISBN: 978-3-89861-755-0.
Die ablehnende Reaktion Litauens und Estlands auf die Einladung Vladimir Putins zu den 60-Jahrfeiern des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg lenkte den Blick darauf, dass Europa keine einheitliche Erinnerungsgemeinschaft ist. Die Gegensätzlichkeit der Erinnerungen an das „kurze 20. Jahrhundert“ (E. Hobsbawm) im alten und im neuen Europa spiegelt sich sowohl in den wissenschaftlichen Paradigmen als auch in den jeweiligen nationalen Vergangenheitsdiskursen wider.
Der vorliegende Sammelband nimmt sich die Bestandsaufnahme der noch im Transformationsprozess begriffenen Erinnerungskulturen in Mittel- und Osteuropa vor. Er dokumentiert die Tagungsbeiträge der internationalen wissenschaftlichen Konferenz „Transformation der Erinnerungskulturen?“, welche 2005 in Zusammenarbeit mit der „Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ in Recklinghausen stattfand. Die 24 Aufsätze der Historiker und Historikerinnen aus sechs Ländern beschäftigen sich mit der Frage, welche Rolle der Geschichte im Rahmen des Transformationsprozesses zukommt, und umgekehrt, welche Wirkung die politischen Wandlungsprozesse auf die Entwicklung der neuen historischen Erzählungen haben.
Das zentrale Augenmerk des Bandes liegt auf den neuen narrativen Diskursen in Ostmitteleuropa: Es werden Fallbeispiele aus Polen, Tschechien, Ungarn, Deutschland und Ungarn besprochen, wobei vergleichend auch das westliche Europa, insbesondere Frankreich und Italien, herangezogen wird. Die nationalen Diskurse werden auf den Umgang mit zwei konkurrierenden Erinnerungskomplexen hin untersucht: Vor allem geht es um die historiographische Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturerfahrungen des letzen Jahrhunderts in Europa – mit dem nationalsozialistischen und dem stalinistischen Regime – und um die Erinnerungen an diese. Als Reflektoren des jeweiligen öffentlichen Vergangenheitsdiskurses werden von den Autoren bestimmte geschichtspolitische Aktionen wie Denkmal- und Gedenkstätteninitiativen, Debatten über Gedenktage sowie öffentliche Gedenkrituale untersucht. Alle Beiträge orientieren sich dabei an den folgenden Leitfragen: Was ist die Rolle der neu entwickelten Meistererzählungen bei der Formulierung der politischen Agenda und zugleich des neuen kollektiven Gedächtnisses und der nationalen Identität? Wie lassen sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Erinnerung in den pluralisierten Gedächtniskulturen des östlichen und westlichen Europas an Shoah und Porrajmos, an Gulag und Vertreibung beschreiben und erklären?
Der Herausgeber Bernd Faulenbach diskutiert einleitend die Tendenzen der divergierenden Erinnerungskulturen in der europäischen Erinnerungslandschaft und verknüpft dabei die neuen Diskurse mit den politischen Wandlungsprozessen in den jeweiligen Gesellschaften Ostmitteleuropas. Dabei macht er die unterschiedlichen Kategorien in den Entwicklungstendenzen der narrativen Strukturen sichtbar: Je höher der Grad des Elitenwandels war, desto stärker hat sich die Gedenkkultur im jeweiligen Staat verändert. Zugleich sieht Faulenbach ein gewisses Konfliktpotential zwischen der „einenden Erinnerung an den Holocaust“ (Dan Diner) und den neu entwickelten monoethnischen viktimisierenden Narrativen, die vor allem für die kleinen Länder Ostmitteleuropas typisch sind. Durch diesen einleitenden Beitrag wird die vergleichende Perspektive der Fallbeispiele abgesteckt, welche im abschließenden Resümee von Jörg Rüsen als Frage nach dem Ansatz zur europäischen Erinnerungskultur nochmals aufgegriffen wird.
Im länderspezifischen Abschnitt zum polnischen Vergangenheitsdiskurs diskutiert Hans-Jürgen Bömelburg die Entwicklung des geschichtspolitischen wie des öffentlichen Diskurses in Polen über den Zweiten Weltkrieg seit 1945. Die in den achtziger Jahren begonnene Systemtransformation löste einen Bruch im öffentlichen Erinnern Polens aus: Die alten Helden wurden gestürzt, die ehemaligen „Befreiungstage“ wurden kaum noch begangen. Dafür wurde nun der Warschauer Aufstand zum „nationalen Volksaufstand“ mythisch erhöht, und so wurde ihm ein Heldenkult zuteil. Gleichzeitig war und bleibt der Vergangenheitsdiskurs im aktuellen Polen ein Gegenstand der politischen Auseinandersetzung: Es werden Debatten um die Vertreibung zum Zweck innenpolitischer Mobilisierung teilweise symbolisch inszeniert, wie die Auseinandersetzung mit Deutschland um das geplante Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin zeigt.
Die mosaikhafte Vielgestaltigkeit im erinnerungskulturellen Paradigma Polens ist das Thema des Beitrages von Claudia Kraft. Sie stützt sich auf die Auswertung der konträren politischen und öffentlichen Debatten und konstatiert für Polen eine weitestgehend pluralistische Erinnerungslandschaft. Die heutige polnische Gesellschaft, die geprägt ist durch „Gedächtniskonflikte“, weist Differenzen sowohl auf der Generationen- als auch auf der regionalen und disziplinären Ebene auf. Bemerkenswert ist dabei jedoch die diese Diskurse einigende Distanz zur „europäischen“ Erinnerungskultur, welche sich auf das Shoah-Gedenken orientiert.
Die Prager Historiker Jiří Pešek und Miroslav Kunštát greifen in ihren beiden Beiträgen die zwei konfliktreichsten Themenkomplexe im Vergangenheitsdiskurs des heutigen Tschechien auf: Die Debatte um die Beneš-Dekrete und die Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit gehören zu den grundlegenden erinnerungskulturellen und politischen Kontroversen, wobei gerade die letztere Ende der neunziger Jahre zu einer Identifikationskrise führte.
Gerhard Seewann und Evá Kovács geben einen allgemeinen Überblick über die Entwicklung der Shoah-Diskurse in Ungarn: Auch hier stellt sich zuerst und vor allem die Frage nach der Identifikation der ungarischen Gesellschaft mit der Opfer- bzw. Täterrolle. Im Umgang der ungarischen Gesellschaft mit dem Holocaust ließen sich, so die Autoren, drei Epochen ausmachen: die Epoche der Diskussion (1945–1948), die des Verschweigens (1948–1989) sowie die der Generalisierung und der Relativierung (1989 bis heute).
Krisztián Ungváry bietet eine fundierte Analyse des Diskurses über die kommunistische Vergangenheit in Ungarn: Sein Blick richtet sich auf die Mediendebatten, die rechtspolitischen Akte wie die Lustrationsgesetze sowie die museale Inszenierung des Kommunismus im Budapester „Terror haza“, dem Museum für die Opfer des Terrors unter beiden Diktaturen.
Eine überaus überzeugende und empirisch gut gestützte Studie zum russischen Vergangenheitsdiskurs bietet Isabelle de Keghel. Wenn unter Jelzin die ganze Sowjetepoche samt ihrem Gründungsmythos Oktoberrevolution marginalisiert wurde, was zur Peripherisierung bzw. zum Sturz die Denkmäler für die kommunistischen Symbolfiguren führte, wird die Erinnerungskultur unter Putin re-sowjetisiert. Die sowjetische Ära wird in die historische Identität der Russen re-integriert, wofür die öffentliche Debatte über die Rückkehr des Dzeržinskij-Denkmals auf den Lubjanka-Platz exemplarisch steht.
Einen Blick auf die russische Erinnerungskultur aus der politikwissenschaftlichen Perspektive richtet Heinz Timmermann. Er bewertet die Außenpolitik wie auch die Geschichtspolitik der Russländischen Föderation aus dem Blickwinkel des russischen imperialen Anspruchs: Auf der Suche nach der neuen post-imperialen Identität werden vor allem die alten identitätsstiftenden Konzepte der Großmacht wieder attraktiv. Damit rechtfertige Russland seine außenpolitischen Aktionen, was Timmermann als Absage an eine demokratische Erinnerungskultur auffasst.
Ob die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland als Vorbild oder als Baustelle der Erinnerung gedeutet werden kann, fragt der zweite Herausgeber Franz-Josef Jelich in seinem einleitenden Beitrag zum deutschen Fallbeispiel. Eine Antwort kann im Beitrag von Anne Kaminsky gefunden werden: Es gelingt ihr zu zeigen, dass die Auseinandersetzung über die stalinistische Unterdrückung während der Nachkriegszeit immer noch emotional aufgeladen und politisiert ist, da sie in elementarer Weise die Frage nach der Schuld der Stalinismus-Opfer an NS-Verbrechen aufwirft. So sei das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit unter zwei Diktaturen noch ziemlich gespannt und von großer Unsicherheit begleitet. Dies sei der Grund, warum gerade in der BRD, wo die Erinnerung an den Holocaust zum zentralen Element der kollektiven Identität wurde, die Opferkonkurrenz sich als besonders virulentes Problem darstellt.
Auch in der aktuellen ostdeutschen Erinnerungskultur nehme die Erinnerung an die Shoah den zentralen Platz ein, stellt Annette Leo in ihrem Beitrag fest. Somit sei sie vollständig an die Erinnerungskultur der BRD angepasst. Eine distinkte Besonderheit bilde allerdings das häufig nostalgische Bild des Lebens in der DDR, welches in einer solchen Form nur in den neuen Bundesländern präsent sei.
Das Thema der Erinnerungsorte, Erinnerungsschichten, Erinnerungskonflikte in Europa ist keineswegs neu, – der hier zu rezensierende Band bewegt sich folglich auf einem gut erforschten Terrain und sollte im Kontext einer bereits umfangreichen Literatur zu diesem Gebiet gesehen werden. Durch die sehr fundierten länderspezifischen Beispiele ist er als ein überzeugender Beitrag zur Diskussion über die europäischen Erinnerungskulturen zu sehen. Das in der Einleitung deklarierte Ziel, Entwicklungstendenzen der europäischen Erinnerungslandschaft aufzuzeigen, hat er sicherlich erreicht. Leider blieben die Fallbeispiele ohne kommunikativen Bezug aufeinander, was den Band dem Anspruch der Herausgeber, die kommunikativen Zusammenhänge zwischen den Erinnerungskulturen zu beleuchten (S. 9), nicht gerecht werden lässt: Die zwischen unterschiedlichen geschichtspolitischen Regionen umkämpften und umstrittenen Erinnerungsorte (wie Katyn, Molotov-Ribbentrop-Pakt, Vlasov-Bewegung, Partisanen und Kollaboration) finden keine Erwähnung.
Ausgeschlossen von der Behandlung blieb auch einer der spannendsten geschichtspolitischen Regionen Europas – das Baltikum, wobei viele Autoren sich in ihren Beiträgen auf den Konflikt zwischen Moskau und den Regierungen Estlands und Litauens um die Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages des Sieges über NS-Deutschland und den Eklat um die Rede von Sandra Kalniete beziehen.
Die Beiträge kommen auch recht unterschiedlich daher: Wenn manche als Diskussionsbeiträge verfasst sind und Dialog-Charakter tragen (z.B. Pešek, Kunštát, Lemberg), weisen manche andere eine starke Theorielastigkeit auf (z.B. Langenohl). Diese Differenz äußert sich folglich auch in der unterschiedlichen Qualität bei der formellen Gestaltung der Beiträge: Manche Autoren verzichten auf einen Fußnotenapparat, ein gemeinsames Literaturverzeichnis zum Schluss bleibt ein Desiderat. Der Vollständigkeit halber sei hier auch noch auf weitere redaktionelle Mängel wie die häufigen Schreib- und Druckfehler hingewiesen.
Ungeachtet der hier aufgeführten Nachteile bietet der Band dank den erkenntnisreichen länderspezifischen Betrachtungen einen guten Einstieg für diejenigen, die sich dem Thema der europäischen Erinnerungskulturen annähern.
Ekaterina Makhotina, München
Zitierweise: Ekaterina Makhotina über: Bernd Faulenbach, Franz-Josef Jelich (Hrsg.): „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989. Klartext Verlag Essen 2006.ISBN: 978-3-89861-755-0., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 3, S. 468-471: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Makhotina_Faulenbach_Transformationen.html (Datum des Seitenbesuchs)