Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 449-450
Verfasst von: Walter Leimgruber
Feste, Feiern, Rituale im östlichen Europa. Studien zur sozialistischen und postsozialistischen Festkultur. Hrsg. von Klaus Roth. Berlin [usw.]: Lit Verlag, 2008. 370 S., Abb. = Freiburger Sozialanthropologische Studien, 21. ISBN : 978-3-8258-1708-4.
Feste stellten in den sozialistischen Ländern – „entgegen verbreiteten stereotypen Vorstellungen“ – einen wichtigen Teil des Privatlebens, des öffentlichen Lebens und vor allem des Arbeitslebens dar, hält der Herausgeber in seinem Vorwort fest. Es wird nicht klar, auf welche Stereotypen er sich bezieht, wohl auf westliche Vorstellungen des sozialistischen Lebens als grau, eintönig, freudlos und ausschließlich von Arbeit geprägt. Auf jeden Fall hat sich eine beachtliche Anzahl von Forscherinnen und Forschern aus Ost und West im Rahmen eines Forschungsprojektes und zweier Tagungen daran gemacht, Alltag und Fest in den ehemals sozialistischen Ländern vergleichend zu untersuchen. Der vorliegende Band veröffentlicht 22 der 39 Vorträge, die auf den beiden Tagungen gehalten wurden.
Gegliedert ist die Sammlung in die Teile „Feste und Politik“, „Arbeit – Feier – Ritual“, „Fest und nationale Identität“, „Fest und ethnische, regionale, lokale Identität“, „Fest – Tradition – Religion“. An diesen Titeln wird erkennbar, dass kleine, private Feste kaum berücksichtigt werden, auch wenn sie für das Leben der Menschen ebenfalls eine große Bedeutung hatten und oft den Rahmen lieferten für ein Zusammensein und eine Lebensfreude, die nicht von Staat und Partei kontrolliert wurden. Der Band widmet sich primär den Zusammenhängen von Politik, gesellschaftlicher Entwicklung und Fest. Er ist räumlich breit angelegt, es finden sich Aufsätze zum ehemaligen Jugoslawien, zu Bulgarien, Serbien, Kroatien, Slowakei, Rumänien, Ungarn, Polen, Lettland und Ostdeutschland, wobei einige Länder mehrfach vertreten sind, andere wie die Sowjetunion/Russland hingegen ganz fehlen und der Schwerpunkt insgesamt auf dem südöstlichen Europa liegt. Auch das Spektrum der gewählten Themen ist beeindruckend: Es reicht von den Ritualen zu Titos Geburtstag (Ivan Čolović, Belgrad) und der ideologischen Transformation des Blasmusikfestivals in Guča über den Tag der Frau im Kontext des Transformationsprozesses in der Slowakei (Aleksandra Marković) und die Kirchweih bei den Banater Schwaben (Anton Sterbling) bis zum imaginären „Walachischen Königreich“ in Mähren, einem privaten „Staat“ mit eigener Währung, eigenen Pässen und einem „König“ (Jana Nosková) und zur Wandlung von Identität und Lebensweise im rumänischen Judentum nach der Wende von 1990 (Claus Stephani), um nur einige Beispiele zu nennen. Und ebenso vielfältig sind die Zugänge der Autorinnen und Autoren, die sich auf Archivmaterial, Oral History und Feldforschungen stützen.
Der einleitende Text von Klaus Roth zu „Alltag und Fest im sozialistischen und politischen Osteuropa“ versucht die Vielfalt zu bündeln, indem er sich kurz mit dem komplexen Begriff des Alltags auseinandersetzt (hingegen interessanterweise nicht mit denjenigen des Festes und des Rituals), diesen Begriff in Beziehung setzt zur starken ideologischen Nutzung von Konzepten zu „Kultur“ und „Lebensweise“ in den sozialistischen Ländern und zu erklären versucht, warum die Feste in der poststalinistischen Ära (um die es in allen Beiträgen geht) sowohl für die Bevölkerung als auch für die Politik eine zentrale Rolle spielten. Sichtbar wird ein ganzes Bündel von Argumenten, warum die Feste so bedeutend waren: Die traditionelle Kraft von Lebenslauffesten wie Taufe, Hochzeit und Beerdigung gerade in ländlichen Gesellschaften; die Möglichkeit, dem bisweilen harten Alltag zu entkommen; das Vorhandensein von Geld, das angesichts des Mangels an Konsumgütern in Lustbarkeiten investiert werden konnte; die als Folge der häufig wenig produktiven Arbeit auch am Arbeitsplatz vorhandene freie und verfügbare Zeit; aber auch die Versuche der Politik, mit Hilfe von Festen gegen unliebsame Traditionen (z.B. religiöse Anbindungen) vorzugehen und die eigene Ideologie auf sinnlich erlebbare Weise zu propagieren.
Etwas erstaunt scheinen einzelne Autoren ob der Tatsache zu sein, dass die Festfreude im Postsozialismus anhielt, der zu erwartende Bruch mit der „Kultur des Feierns“ nicht eintrat, obwohl „diese in der Marktwirtschaft nun eigentlich dysfunktional war“ (Roth, S. 22). Wiederum findet man in den Beiträgen ein ganzes Set von Argumenten, warum sich dies so verhält: Die Herausbildung neuer (und erneuerter) nationaler, ethnischer und religiöser Rituale der Identitätsstiftung, touristische und regionalpolitische Entwicklungsstrategien, eine ausgeprägte Konsum- und Unterhaltungsorientierung, aber auch ganz einfach das Festhalten an zu Tradition gewordenen Anlässen, die gerade für die Verlierer der Transformation auch eine gewisse Nostalgie an die sozialistische Epoche wachhielten.
So wie uns ein Fest mit seinem Zauber aus Fröhlichkeit, Leichtigkeit und Ausgelassenheit, mit seinem heiteren Rahmen aus Licht und Farbe, Musik und Tanz, Essen und Trinken zu entführen vermag und den Alltag für einen Moment vergessen lässt, bietet der Band vielfältige und unterhaltende Einblicke in die Festkultur des östlichen Europas der späten sozialistischen und frühen postsozialistischen Epoche. Einen systematischen Vergleich der Bedeutung von Festformen und -kulturen in unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontexten vermag die Form des Tagungsbandes selbstverständlich nicht zu leisten, dazu wären detaillierte Fallstudien und ein gemeinsames analytisch-theoretisches Gerüst notwendig.
Walter Leimgruber, Basel
Zitierweise: Walter Leimgruber über: Feste, Feiern, Rituale im östlichen Europa. Studien zur sozialistischen und postsozialistischen Festkultur. Hrsg. von Klaus Roth. Berlin [usw.]: Lit Verlag, 2008. 370 S., Abb. = Freiburger Sozialanthropologische Studien, 21. ISBN : 978-3-8258-1708-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Leimgruber_Feste_Feiern_Rituale.html (Datum des Seitenbesuchs)
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