Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  572–574

Pierre Gonneau À l’aube de la Russie moscovite. Serge de Radonège et André Roublev. Légendes et images (XIVe – XVIIe siècles). Institut d’études slaves Paris 2007. 368 S., 24 Bildtaf. = Bibliothèque russe de l’Institut d’études slaves, 114. ISBN: 978-2-7204-0435-1.

Was kann eigentlich beschaulicher sein, als eine gute Übersetzung einer altrussischen Heiligenvita ins Französische anzufertigen? Doch mit seiner Ausgabe der Vita Sergijs von Radonež, begleitet von übersetzten Quellen über den Lebens­weg Andrej Rublevs, begibt sich Pierre Gonneau (Universität Paris IV – Sorbonne / École pratique des hautes études) mitten in die historiographischen Auseinandersetzungen, die zurzeit um die Lebensgeschichten der beiden ge­nannten russischen Heiligen geführt werden. Eine davon dreht sich um die Textgeschichte der Vita Sergijs, die zweite um die Interpretation des Werkes Andrej Rublevs. Vor kurzem stellte Boris M. Kloss viele traditionelle Vorstellungen über die Entstehung der Vita Sergijs in Frage, darunter auch die Autorschaft jener Texte, die Epifanij dem Weisen und Pachomij dem Serben zugeschrieben wurden – ein Versuch, der nicht von allen Fachkennern gewürdigt wurde. (Vgl. B. M. Kloss Izbrannye trudy. T. 1: Žitie Sergija Radonežskogo. Moskva 1998; vgl. auch V. A. Kučkin „Antiklossicizm“, in: Drevnjaja Rus’. Voprosy medievistiki 2002, № 2 (8) S. 113–123; № 3 (9) S. 121–129; № 4 (10) S. 98–113; 2003, № 1 (11) S. 112–118; № 2 (12) S. 127–133; № 3 (13) S. 112–130; № 4 (14) S. 100–122; vgl. auch A. G. Bobrov, G. M. Prochorov, S. A. Semjačko Imitacija nauki: O knige B. M. Klossa „Izbrannye trudy. T. 1. Žitie Sergija Radonežskogo. Rukopisnaja tradicija. Žizn i čudesa. Teksty“ M. 1998, in: Trudy Otdela drevnerusskoj literatury 53 (2003) S. 418–445). Pierre Gonneau nimmt zu diesem Streit nicht Stellung, obwohl er gerade die Redaktion übersetzt, die stets als Resultat der Tätigkeit der beiden genannten Hagiographen gesehen wurde – also den neunten Typ der „Ausführlichen Redaktion“ bzw. die „Redaktion E“ (nach der Klassifizierung Jablonskijs).

Bei der Untersuchung des Textes greift Gonneau zu der von Riccardo Picchio formulierten Methode der „biblischen thematischen Schlüssel“ (biblical thematic clues). Von den 589 biblischen Zitaten, die der Text der Vita enthält, beziehen sich 312 auf das Alte Testament und 277 auf das Neue. Gonneau zufolge vergleichen die alttestamentarischen Zitate Sergij vor allem mit Moses, Aaron und Elias. Bei den neutestamentlichen Zitaten dominieren die Evangelien und die Briefe des Apostels Paulus. Neben der Bibel greifen die beiden Hagiographen zu einer Reihe anderer Texte. Die Zitate aus der „Vita des Heiligen Feodosij Pečerskij“ und aus dem Paterikon des Höhlenklosters sollen die Verbindung Sergijs mit der Kiever Tradition des Mönchtums betonen. Bemerkenswert ist das Fehlen von Zitaten aus den Werken des Hesy­chas­mus-Theologen Gregor Palamas, obwohl, so Gonneau, die Vita „vom Geist des Hesychasmus geprägt“ ist, was auch im Lob des ununterbrochenen Gebets sichtbar wird. Die beiden Hagiographen brachten in die Vita Elemente aus eigenen Werken ein: Epifanij aus seiner „Vita Stefans von Perm’“ und Pachomij aus der „Vita Varlaams von Chutyn’“. Diese Elemente, die Gonneau identifiziert, machen die intertextuellen Bezüge der Vita besonders komplex. Gerade in dieser Hinsicht sind die Bemerkungen Gonneaus über die „Troickaja letopis’“ als Quelle der „Vita Sergijs“ (S. 290–291) sehr wichtig – vor allem deswegen, weil in den letzten Arbeiten von Kloss diese Chronik ebenfalls Epifanij dem Weisen zugeschrieben wird.

Ursprünglich wollte der Autor nicht nur den Text der „Vita“, sondern auch die begleitenden Miniaturen veröffentlichen, die aus einem Pracht­manuskript des 16. Jahrhunderts stammen. Die Bedeutung dieser illuminierten Handschrift ist schon lange anerkannt, aber die Forscher waren bisher in Ermangelung einer wissenschaftlichen Ausgabe gezwungen, mit einem handgemalten Faksimile von 1853 zu arbeiten. Die Verhandlungen mit der Handschriftenabteilung der russischen Staatsbibliothek, die das Manuskript beherbergt, verzögerten sich, und in dieser Zeit trat ein neuer Akteur in Erscheinung: die Dreifaltigkeitslavra des Heiligen Sergij, die auf ihrer Internet-Seite das schon erwähnte Faksimile veröffentlichte (http://stsl.ru). Gonneau zufolge ist damit eine neue Reproduktion der Miniaturen obsolet geworden. Der Autor beschränkt sich auf eine kurze Beschreibungen aller Miniaturen, die in den Text der Vita integriert sind. Dem fügt er ein Kapitel mit der Untersuchung der Bilderreihe hinzu, das dem in der Mediävistik anerkannten Genre der monographischen Untersuchung eines illustrierten Manuskriptes entspricht (z.B.: G. I. Vzdornov Kiev­skaja Psaltir’ 1397 goda. Issledovanie o Kiev­skoj Psaltiri. Moskva 1978; Vasiliki Tsa­mak­da Illustrated Chronicle of Ioannes Skylitzes in Madrid. Leiden 2002).

Den zweiten Teil des Buches bilden Auszüge aus Chroniken und anderen Quellen, in denen der Name Andrej Rublevs auftaucht. Der Rückgriff auf die Quellen zeigt, wie dürftig das allgemeine Wissen über den Ikonenmaler ist. Die viel zitierte Information über die Zusammenarbeit Rublevs, Prochors von Gorodec und Feofans des Griechen bei den Fresken des Blagoveščenskij sobor stammt aus der „Geschichte“ Karamzins. Dass Karamzin diese Information der „Troickaja letopis’“ entnahm, deren einziges Manuskript 1812 verbrannte, ist nur eine Hypothese. Die weiteren Quellenauszüge verfolgen die Lebensgeschichte Rublevs bis zur Restauration der Dreifaltigkeitskirche in dem von Sergij gegründeten Kloster bald nach dem Tod des Ikonenmalers. Der Autor konzentriert sich ausschließlich auf die schriftlichen Quellen, ohne auf exzentrische Hypothesen oder Funde einzugehen wie etwa Rublevs angebliche Reise nach Bulgarien (Vera G. Brjusova) oder seine Reliquien, die der Moskauer Kunsthistoriker Oleg G. Ul’janov gefunden haben will.

Eine kritische Bemerkung zum Schluss: Die Charakterisierung des tatarischen Kriegers, der den russischen Krieger vor der Schlacht auf dem Schnepfenfeld zum Zweikampf ruft, als „Pečenege“, erklärt sich nicht nur aus der Gleichsetzung aller nomadischen Völker in den altrussischen Quellen, wie der Autor behauptet. Man kann hier auch eine direkte Anspielung auf das Ringen zwischen dem jungen Kiever und dem riesigen Pečenegen aus der Nestorchronik (unter dem Jahr 6500) sehen, womit noch eine Quelle der „Vita Sergijs“ identifiziert wird.

Aleksandr Lavrov, Paris

Zitierweise: Aleksandr Lavrov über: Pierre Gonneau À l’aube de la Russie moscovite. Serge de Radonège et André Roublev. Légendes et images (XIVe – XVIIe siècles). Institut d’études slaves Paris 2007. = Bibliothèque russe de l’Institut d’études slaves, CXIV. ISBN: 978-2-7204-0435-1, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 572–574: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Lavrov_Gonneau_Aube_de_la_Russie.html (Datum des Seitenbesuchs)