Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

 

Ausgabe: 59 (2011) H. 1

Verfasst von:Jan Kusber

 

Dittmar Dahlmann Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2009. 438 S., 42 Abb., Kte. ISBN: 978-3-506-71361-2.

Lange war eine deutschsprachige Synthese zur Geschichte Sibiriens überfällig: Ludmila Thomas’ 1982 erschienene Monographie (Ludmila Thomas Geschichte Sibiriens. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin [Ost] 1982) hatte nicht nur ihren Schwerpunkt in der Revolutions- und Sowjetzeit, sondern war auch in zeitbedingten Interpretationsschemata verhaftet, die einer abgewogenen Einordnung Sibiriens in das Russländische Imperium und die Sowjetunion im Wege standen. Leider jedoch hat sie als herausragende Sibirienkennerin keine neu gefasste Version ihres Buches vorgelegt. Die Werke von Benson Bobrick (Benson Bobrick East of the Sun. The conquest and Settlement of Siberia. London 1992) und W. Bruce Lincoln (W. Bruce Lincoln Die Eroberung Sibiriens. München 1994) aus den neunziger Jahren sind eher Erzählungen ausgewählter Kapitel aus der Geschichte Sibiriens mit einem Fokus auf der Erober­ungsgeschichte. Der von Eva-Maria Stolberg herausgegebene Sammelband (Eva-Maria Stolberg [Hrsg.] The Siberian Saga. A history of Russia’s wild East. Frankfurt a.M. 2005) enthält nur Einzelstudien und Sabine Gladkovs in vielem fehlerhafte Geschichte Sibiriens aus dem Jahr 2003 genügt wissenschaftlichen Ansprüchen nur bedingt (Sabine A. Gladkov Geschichte Sibiriens. Regensburg 2003).

Nun legt Dittmar Dahlmann eine Synthese der Geschichte Sibiriens seit der Inkorporation in das Moskauer Zarenreich bis in das postsowjetische 21. Jahrhundert vor, die den Wunsch nach einem verlässlichen, qualitätsvoll recherchierten Standardwerk endlich erfüllt und die Unwucht der genannten Darstellungen ausgleicht. Seine Arbeit ergänzt die mehrfach wieder aufgelegte Arbeit von James Forsyth (James Forsyth A History of the Peoples of Siberia. Russia’s North Asian Colony 1581–1990. Cambridge 1992), der die indigenen Ethnien Sibiriens in den Mittelpunkt stellte, wobei aber auch Dahlmann – anders als Lincoln oder Bobrick – diesen Völkern den ihnen zukommenden Platz einräumt. Seine Geschichte Sibiriens ist zwar auch die der russischen Expansion, doch immer auch die der Völker, die im Zuge der Eroberung und des sowjetischen Modernisierungszwangs ihre Identität oder gar ihre Existenz gewaltsam verloren haben oder nur mühsam behaupten konnten.

Dahlmann steckt in einem einleitenden Kapitel den Rahmen seiner Synthese ab, und sein Ausgangspunkt ist ein gegenwärtiger und historischer zugleich: Sibirien, so konstatiert er eingangs, ist assoziativ aufgeladen und gleichsam ein Sehnsuchtsraum der Deutschen. Die deutschen Medien zu Beginn des 21. Jahrhunderts vermitteln Sibirienbilder und können dabei auf Traditionen aufsetzen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Endloser Raum, Land der Zukunft und der Bodenschätze, Ort der Verbannung und Gefangenschaft – Dahlmann stellt diese Bilder einleitend nebeneinander. Sie sind nicht Gegenstand einer eigenen Untersuchung zu Auto- und Heterostereotypen wie in dem Sammelband „Between Heaven and Hell“ (Ga­lya Diment, Yuri Slezkine [Hrsg.] Between Heaven and Hell. The Myth of Siberia in Russian Culture. New York 1993), jedoch greift er diese Topoi in der weiteren Darstellung immer wieder kritisch reflektierend auf. Dahlmanns Zugriff kann man als multiperspektivisch im besten Sinne bezeichnen. Er diskutiert raumtheoretische Zugänge; er klopft die mit Sibirien immer wieder in Verbindung gebrachte frontier-Theorie Frederick Jackson Turners auf ihren heuristischen Wert ab; er bezieht Kolonisation und Eroberung als Movens der russischen Geschichte mit ein. Schließlich diskutiert er die Kulturbegegnung zwischen den indigenen Ethnien und jenen, die aus dem europäischen Teil des Moskauer Reiches, des petrinischen Imperiums und der Sowjetunion nach Sibirien kamen und in einem jahrhundertelangen Prozess jenes gegenwärtige Sibirien formten, das Ausgangspunkt der historischen Erzählung ist. Ohne den Regionalisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts das Wort zu reden, geht Dahlmann davon aus, dass Sibirien – ungeachtet aller Diskussionen über seine Grenzen – eine gesonderte Entität darstellt.

Nach dieser Hinführung setzt sich der Verfasser mit Sibirien vor der russischen Eroberung auseinander. Knapp gibt er einen Einblick in die Frühgeschichte Sibiriens, würdigt die Bedeutung der Mongolen für dessen Geschichte, um dann einen Überblick über die indigenen Ethnien und über die russischen bzw. europäischen Kenntnisse über Sibirien zu geben (S. 29–46). Im folgenden, umfangreicheren Kapitel schildert er die Inkorporation Sibiriens ins Moskauer Reich durch die Familie Stroganov und ihren ‚Scout‛ Ermak in der Zeit Zar Ivans IV. Hier diskutiert der Verfasser die Historiographie, vor allem die Arbeiten von Ruslan Skrynnikov, und das populäre Bild Ermaks und kommt zu einer abgewogenen Gewichtung der Rollen der erobernden Unternehmer, der auf eigene Faust handelnden Konquistadoren, des Staates und des anhaltenden Widerstands, den die Einwohner Sibiriens leisteten (S. 48–73).

Sodann folgen drei systematische Kapitel. In „Eine Welt wird erobert“ geht es um das schnelle und blutige Vordringen der russischen Macht, die erst im Grenzraum zu China im Vertrag von Nerčinsk zum Stehen kam, dann aber auf den amerikanischen Kontinent ausgriff. Hier thematisiert er auch die nachfolgende langsame Siedlungstätigkeit von Russen zunächst in Westsibirien (S. 76–104).

In „Eine Welt wird erforscht“ ist Dahlmann ganz in seinem Element. In eigenen Forschungen hat sich Dahlmann intensiv mit der Erforschung Sibiriens vor allem im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert befasst, und er schildert anschaulich und teilweise im Detail die großen Expeditionen vor dem Hintergrund der Erschließung des Raumes und dessen Territorialisierung für das Imperium, wobei er die negativen Folgen von wissenschaftlicher Beschreibung und Mission für die Völker Sibiriens insbesondere auf der Halbinsel Kamčatka deutlich benennt (S. 105–141). Das dritte systematische Kapitel bildet eine knappe Skizze der vorrevolutionären Verwaltungsgeschichte mit den Besonderheiten Sibiriens und einer Würdigung Michail Speranskijs, den rechtlichen Residuen der indigenen Ethnien, der weitgehenden Abwesenheit von Adel und Leibeigenschaft und dem Experimentieren mit der Selbstverwaltung. Das Verbannungssystem stellt der Verfasser in eine vergleichende Perspektive internationalen Strafvollzugs, auch was die Zahlen derjenigen betrifft, die sich in der katorga und ssylka befanden, und relativiert den Negativbefund, der seit George Kennans berühmter Beschreibung weitertradiert wird, ohne ihn jedoch zu verharmlosen (S. 143–166).

Als „Auf dem Weg in die Moderne“ schildert Dahlmann Sibirien seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit dem Entstehen einer Intellektuellenschicht, die freilich ihr Glück oft außerhalb Sibiriens suchte und das oblastničestvo als Modell favorisierte, vor allem aber mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn, der beginnenden Industrialisierung und der Ausbeutung von Bodenschätzen als auch mit der massenhaften Migration nach Sibirien zu Beginn des 20. Jahrhunderts (S. 167–201).

Diese Entwicklungen setzten sich während des Krieges gegen Japan und der ersten russischen Revolution und schließlich in der Zeit des Ersten Weltkrieges, der Revolution und des Bürgerkrieges fort. Sie katalysierten in manchem, so Dahlmann, die Entwicklung Sibiriens, nicht zuletzt deshalb, weil Sibirien phasenweise zum Hauptschauplatz der Ereignisse mit episodenhaften staatlichen Gebilden wurde. Die Bol’ševiki hatten, dies arbeitet der Verfasser deutlich heraus, gerade gegenüber den freien Bauern Sibiriens Akzeptanzprobleme, die sie, wie zuvor die Weißen, mit Gewalt zu lösen suchten (S. 202–240).

Die „sowjetische Zeit“ Sibiriens bis zum Zweiten Weltkrieg wird bei Dahlmann vergleichsweise knapp abgehandelt. Hierin mag man eine Reaktion auf die Tatsache sehen, dass die Unterwerfung Sibiriens, nicht nur seiner Ethnien, sondern auch seiner naturräumlichen Schätze während jener Periode, in den jüngsten Forschungen zum Stalinismus vielfach breit behandelt worden sind. Aber auch dieses Kapitel enthält aussagekräftige Schilderungen der gewaltsamen Kollektivierung, der forcierten Erschließung von Bodenschätzen und landwirtschaftlichen Anbaugebieten, der irrwitzigen Vor­haben, sibirische Ströme umzuleiten, und einer Ethnologie, die beschrieb und zugleich eine ‚Höherentwicklung‛ der indigenen Völker Sibiriens betrieb (S. 241–269).

Der Blick auf die Nachkriegszeit bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion, aber auch darüber hinaus in die Ära Putin, ist eine Geschichte der Umweltzerstörung durch Gigantomanie und eine Fehleinschätzung des Plan- und Beherrschbaren. Dahlmann zieht eine bittere Bilanz des sowjetischen Experiments in fast jeder Hinsicht und konstatiert einen drastischen Rückgang der Bevölkerung Sibiriens, zugleich aber ein Wiederaufleben regionaler und lokaler Traditionen, soweit sich diese wiederbeleben lassen. Am Ende stellt Dahlmann in einem Ausblick zu Recht fest, dass es sich bei den Topoi von Sibirien als Zukunftsland um einen nicht eingelösten Wechsel auf die Zukunft handelt, der bei den politischen Strategien zu Beginn des 21. Jahrhunderts in absehbarer Zeit auch nicht eingelöst werden wird. Damit kommt Dahlmanns Erzählung in gewisser Weise auf die Sibirienbilder am Anfang seiner Erzählung zurück (S. 270–305).

Dieses sorgfältig gemachte Buch hat viele Vorzüge: Die Register und ein Glossar, das durch die Fachtermini und die ethnischen Landschaften Sibiriens leitet, gehören dazu. Die Gestaltung des Anmerkungsapparates, dessen Ausführlichkeit und Informiertheit einen Ausweis der Leistung Dahlmanns darstellt, ist sehr gut zu erschließen, ohne dass der Lesefluss des Haupttextes gestört wird. Vor allem überzeugt die Ordnung der großen Stofffülle: Der Verfasser überblickt souverän mehr als fünfhundert Jahre sibirischer Geschichte, gewichtet die Forschung und zeigt neue Untersuchungsfelder auf. Dahlmanns Buch wird für Forscher und Studierende wie überhaupt an Sibirien Interessierte ein unverzichtbares, verlässliches Standardwerk sein, dem viele Leser zu wünschen sind.

Jan Kusber, Mainz

Zitierweise: Jan Kusber über: Dittmar Dahlmann Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn [usw.] 2009. ISBN: 978-3-506-71361-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kusber_Dahlmann_Sibirien.html (Datum des Seitenbesuchs)

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