Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 4, S. 622–624
Yad Vashem Studies 35 (2007) 1+2. Yad Vashem Publisher Jerusalem 2007. Vol. 1: 222 S.; Vol. 2: 290 S., Ktn., Abb. ISSN: 0084-3296.
Bevor wir uns dem Inhalt des vorliegenden 35. Heftes der Zeitschrift Yad Vashem Studies zuwenden, gilt es, auf zwei wichtige Veränderungen in der Gestaltung der seit 1957 erscheinenden Zeitschrift hinzuweisen. Zum einen wurde das Layout verändert, d.h. insbesondere wurde das Seitenformat vergrößert, wodurch sich die Lesefreundlichkeit der Texte deutlich erhöhte. Zum anderen – und wesentlich wichtiger –: Mit diesem Heft gehen die Herausgeber dazu über, zwei Ausgaben pro Jahr zu publizieren: eine im Frühjahr und eine im Herbst. Die Anzahl der Artikel pro Jahr soll jedoch nicht verändert werden. Dies hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass sowohl ein thematisch stärker fokussiertes als auch ein „offenes“ Heft pro Jahr publiziert werden kann.
In den vorliegenden zwei Halbbänden des Jahrgangs 35 geschieht dies denn auch vorbildlich. So wenden sich die Artikel im ersten Halbband mehrheitlich Aspekten des Holocaust in Polen zu, während der zweite Halbband, der dem Andenken des im August 2007 verstorbenen Historikers Raul Hilberg gewidmet ist, eine etwas breitere thematische Vielfalt aufweist. In beiden Halbbänden findet sich zudem – wie gewohnt – eine Reihe von Rezensionen zu aktuellen Büchern aus dem weiten Feld der Holocaust-Studien, wobei auch hier der Fokus auf Büchern zum Schwerpunkthema des ersten Halbbandes liegt.
Zum ersten Halbband: Den Schwerpunkt Polen bilden drei wissenschaftliche Artikel. Alina Skibinska und Jakub Petelewicz untersuchen in ihrem Beitrag „The Participation of Poles in Crimes Against Jews in the Swietokrzyskie Region“ die Haltung der ländlichen Bevölkerung gegenüber den Juden während des Holocaust am Beispiel einer Provinz in Zentralpolen (S. 5–48). Sie stützen sich dabei vor allem auf die Protokolle der nach dem Krieg durchgeführten Prozesse und auf Augenzeugenberichte und kommen zu dem Schluss, dass es beträchtliche antijüdische Aktivitäten der polnischen Bevölkerung in dieser Region gab, und, nicht weniger wichtig, dass die polnischen Ermittlungsbehörden nach dem Krieg – insbesondere die Polizei – wenig dazu beitrugen, die Beteiligung von Polen an den Verfolgung der Juden aufzuklären (S. 39). Im zweiten Schwerpunktartikel widmet sich Jan Grabowski dem Thema „Jewish Defendants in German and Polish Courts in the Warsaw District, 1939–1942“ (S. 49–80). Er beschreibt, wie – durchaus überraschend – die polnische Justiz in den ersten Jahren der deutschen Besatzung in die Strukturen des Besatzungsregimes eingebunden wurde, was u.a. dazu führte, dass in dieser Zeit zivilrechtliche Fälle gegen Juden noch vor polnischen Gerichten verhandelt wurden, die jedoch unter deutscher Aufsicht und Kontrolle standen. Im dritten Schwerpunktartikel „Bookkeeping of Death and Prisoner Mortality at Majdanek“ (S. 81–109) beschreibt und analysiert Tomasz Kranz ausführlich das Prozedere bei der Registrierung der im KZ Majdanek ermordeten Gefangenen, wobei er darauf hinweist, wie schwierig es ist, die exakte Zahl der in diesem Lager ermordeten Menschen zu ermitteln. Kranz gelingt es dennoch mit Hilfe weiterer Quellen, eine recht zuverlässige Schätzung der Opferzahlen vorzulegen.
Die beiden weiteren Artikel wenden sich anderen Regionen zu: Klaus-Michael Mallmann und Martin Cüppers widmen sich in ihrem Beitrag „‚Elimination of the Jewish National Home in Palestine‘: The Einsatzkommando of the Panzer Army Africa 1942“ den noch wenig bekannten Plänen der Nationalsozialisten zur Verfolgung und Vernichtung der Juden in Nordafrika und Palästina (S. 111–141), und Kinga Frojimovics präsentiert in ihrem Artikel „Who Were They?“ auf Basis einer nationalen Volkszählung aus dem Jahre 1944 eine Analyse der Sozialstruktur der jüdischen Gemeinden in Ungarn vor ihrer Deportation in die Vernichtungslager und kommt u.a. zu dem Schluss, dass eine Mehrheit der ungarischen Juden sich selbst als orthodox bezeichnete (S. 143–177).
Der Raul Hilberg gewidmete zweite Halbband enthält neben einer Würdigung eines „founding father“ der Holocaust Studies durch den Historiker Christopher Browning (S. 7–20) und einem auf einem Vortrag von 2004 basierenden und persönlich gehaltenen Beitrag über die Entwicklung der Erforschung des Holocaust von Raul Hilberg selbst (S. 21–33) fünf weitere Beiträge. Yehuda Bauer erzählt exemplarisch die Geschichte des jüdischen Shtetls Nowogródek, das in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörte, nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen infolge des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 zunächst unter der sowjetischen und später – ab Juni 1941 – unter der deutschen Herrschaft litt und heute auf weißrussischem Staatsgebiet liegt (S. 35–70). Judit Pihurik analysiert in ihrem Artikel „Hungarian Soldiers and Jews on the Eastern Front, 1941–1943“ auf der Grundlage von Selbstzeugnissen ungarischer Soldaten, z.B. von Tagebüchern, deren Haltung gegenüber den Juden.
Die drei weiteren Artikel richten ihren Blick auf die Zeit nach 1945 und den unterschiedlichen Umgang mit dem Holocaust. Nati Cantorovich gibt uns in ihrem Artikel einen Einblick in die sowjetischen Reaktionen auf den Jerusalemer Eichmann-Prozess in den Jahren 1960–1965. (S. 103–141) Als Quelle dienen hierzu neben Artikeln aus der zeitgenössischen sowjetischen Presse auch Artikel aus wissenschaftlichen Zeitschriften und Bücher über den Eichmann-Prozess, die in der Sowjetunion publiziert wurden. Die Reaktionen, in denen Israel als kapitalistisch-zionistischer Staat denunziert wird, der gemeinsame Sache mit dem „präfaschistischen“ Westdeutschland Adenauers mache, werden dabei als exemplarisch für die sowjetische Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den Zeiten des Kalten Krieges gesehen. So ist denn auch die Wahl des Jahres 1965 als Enddatum des Untersuchungszeitraums als Wegmarke zu verstehen: In diesem Jahr zogen die Sowjets erstmals in einer offiziellen Erklärung vor den Vereinten Nationen Parallelen zwischen Zionismus und Nazismus. (S. 104). Cantorovich kann deutlich herausarbeiten, wie die Sowjetunion seit den frühen fünfziger Jahren mehr und mehr auf Distanz zu Israel ging und der Eichmann-Prozess als propagandistischer Hotspot genutzt wurde. Eine wichtige Ursache hierfür sieht Cantorovich in der Weigerung der Sowjetunion, die Singularität der jüdischen Opfer anzuerkennen.
Auch die beiden letzten Artikel des zweiten Halbbandes widmen sich der Zeit nach 1945 und dem Umgang mit der Erfahrung der Shoah: Michal Shaul wendet sich in ihrem Beitrag einer speziellen Gruppe von Überlebenden und deren Umgang mit der Erinnerung an die Schrecken zu: den ultraorthodoxen Juden (S. 143–185), während Lilach Marom den Umgang mit der Last der Vergangenheit auf deutscher Seite am Beispiel der „Aktion Sühnezeichen“ untersucht (S. 187–220).
Peter Krause, Leipzig
Zitierweise: Peter Krause über: Yad Vashem Studies 35 (2007) 1+2. Yad Vashem Publisher Jerusalem 2007. Vol. 1: 222 S.; Vol. 2: 290 S. ISSN: 0084-3296, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 622–624: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Krause_Yad_Vashem_Studies_35_2007.html (Datum des Seitenbesuchs)