Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Ausgabe: 59 (2011) H. 2

Verfasst von: Gerd Koenen

 

Bernhard H. Bayerlein „Der Verräter, Stalin, bist Du!“ Vom Ende der linken Solidarität. Komintern und kommunistische Parteien im Zweiten Weltkrieg 1939–1941. Mit einem Zeitzeugenbericht von Wolfgang Leonhard und einem Vorwort von Hermann Weber. Unter Mitarbeit von Natalja S. Lebedewa, Michail Narinski und Gleb Albert. Berlin: Aufbau Verlag, 2008. 540 S., 200 Abb. = Archive des Kommunismus - Pfade des XX. Jahrhunderts, 4. ISBN: 978-3-351-02623-3.

Der Band versammelt im Kern die geheime, in deutscher Sprache erstmals veröffentlichte Korrespondenz der Moskauer Kominternzentrale mit den kommunistischen Parteien in Mittel- und Westeuropa in der Periode des Hitler-Stalin-Paktes. Dazu gesellen sich in loser Collage bereits publizierte Dokumente, wie Einträge aus dem Dienstjournal des Kominternvorsitzenden Georgi Dimitroff, Auszüge aus der offiziellen oder privaten Korrespondenz von europäischen KP-Führern, aus Artikeln und Aufzeichnungen von antifaschistischen Intellektuellen, oder Tagebuchnotizen von Joseph Goebbels.

Hoch zu rühmen ist die editorische Großzügigkeit und Sorgfalt: eine Fülle begleitender Fotos, meist Porträts, mitsamt biographischem Anhang; eine fortlaufende zeithistorische Einordnung der Dokumente durch erläuternde Zwischenkommentare sowie eine Zeitleiste; dazu thematische „Schlaglichter“, etwa über das System der Funktelegramme und organisatorischen Verbindungen der Komintern. Auch die einleitenden Texte von Wolfgang Leonhard, Hermann Weber und dem Herausgeber Bernhard Bayerlein machen das Buch für professionelle Historiker wie interessierte Laien zu einer hochinstruktiven Lektüre – wenngleich die Hoffnung Bayerleins, seine Collage möchte sich lesen wie Walter Kempowskis „Echolot“, an der spröden und formelhaften stalinistischen Verkehrssprache, die bis in die privaten Aufzeichnungen hineinreicht, ihre Schranken findet. Vor allem drei Textsorten durchbrechen die restringierten Codes: die zynisch-expressiven Kommentare Goebbels’; die von Dimit­roff beflissen aufgezeichneten, oft betont schockierenden oder rätselhaften Tisch- und Trinksprüche Stalins; und schließlich die Verzweiflungsausbrüche der exilierten Antifaschisten.

Nicht umsonst ist Willi Münzenberg, der unermüdliche Organisator einer internationalen Aktionseinheit gegen den Faschismus, die geheime Leitfigur dieser Zusammenstellung. Seinem Protest gegen den „russischen Dolchstoß“ vom August 1939, den Pakt mit Hitler, ist auch der Titel des Bandes entlehnt: „Der Verräter, Stalin, bist Du!“ Darin ist allerdings viel mehr angesprochen, als der Untertitel des Buches „Vom Ende der linken Solidarität“ umschreibt. Denn Münzensberg Erbitterung galt einem Tatbestand, der auch in der historischen Forschung einer befriedigenden Erklärung harrt: Was bedeutete es, wenn der stalinistische Antifaschismus seinen eigentlichen Furor, ob in der Sowjetunion selbst oder im kämpfenden Spanien, gerade in den Propaganda- und Terrorkampagnen gegen angebliche „Trotzkisten“ und sonstige Abweichler entfaltete? Wie ernstgemeint konnte eine Politik der demokratischen „Volks­front“ im Westen sein, in der die mildeste Kritik an der stalinistischen Politik „Verrat“ und somit potentiell todeswürdig war?

Bernhard Bayerlein schreibt der noch immer unterbelichteten Periode der fast zweijährigen deutsch-sowjetischen Kriegsallianz von 1939–1941 zu Recht eine „Scharnierfunktion“ zu. In ihr wurden nicht nur die Weichen für eine explizitere Nationalisierung der kommunistischen Politiken im Weltkrieg gestellt. Sie wirft eben auch einen düsteren Schatten zurück auf die Vorkriegspolitiken des stalinistischen Regimes, die den konjunkturellen Zielen einer ‚kollektiven Sicherheit‘ nie konsequent verpflichtet waren.

„Nicht schlecht, wenn Deutschland die Lage der reichsten kapitalistischen Länder (vor allem Englands) ins Wanken brächte“, erklärte ein gut gelaunter Stalin schon am 7. September 1939 dem eifrig notierenden Dimitroff. War das so völlig neu – oder nicht eher eine Wiederanknüpfung an die von 1920 bis 1933/34 verfolgte Hauptlinie der sowjetischen Außenpolitik? Warum – darauf weist Wolfgang Leonhard hin – war ausgerechnet der Hitler-Stalin-Pakt der einzige außenpolitische Vertrag der Stalinära, durch den auch die Nachrichtenstationen und sowjetischen Dienste, die die Verbindungen zu den Illegalen im Dritten Reich hielten, über Nacht ‚abgeschaltet‘ wurden?

Einige Parteien, darunter auch die Moskauer KPD-Führung, gingen in ihren spekulativen Erwägungen über die positiven Konsequenzen eines länger dauernden deutsch-sowjetischen Kondominiums über Europa 1940 jedenfalls sehr weit. Einige, wie die belgische oder dänische KP, ließen sich von den deutschen Besatzern bereitwillig legalisieren. Andere, vor allem die französische Partei, wurden von den widersprüchlichen Signalen und Zumutungen der Moskauer Zentrale buchstäblich zerrissen.

Soviel geht aus den hier versammelten Dokumenten überdeutlich hervor: Es war vor allem Hitler, der mit dieser Politik einer Allianzbildung spätestens Ende 1940 brach – während Stalin noch im April 1941 durchaus bereit schien, für ein erweitertes Arrangement mit Nazideutschland die Internationale mit einem Federstrich aufzulösen (wie er es dann erst 1943 tat). War das alles, wie Bayerlein annimmt, bloßes „Appeasement“ – oder nicht eher weltpolitische „brinkmanship“ ersten Ranges? Dieser Band liefert jedenfalls reiches Material für eine weiterhin offene Debatte.

Gerd Koenen, Freiburg/Br.

Zitierweise: Gerd Koenen über: Bernhard H. Bayerlein „Der Verräter, Stalin, bist Du!“ Vom Ende der linken Solidarität. Komintern und kommunistische Parteien im Zweiten Weltkrieg 1939–1941. Mit einem Zeitzeugenbericht von Wolfgang Leonhard und einem Vorwort von Hermann Weber. Unter Mitarbeit von Natalja S. Lebedewa, Michail Narinski und Gleb Albert. Aufbau Verlag Berlin 2008.= Archive des Kommunismus - Pfade des XX. Jahrhunderts, 4. ISBN: 978-3-351-02623-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Koenen_Bayerlein_Verraeter_Stalin.html (Datum des Seitenbesuchs)

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