Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 303-305

Verfasst von: Ines Koeltzsch

 

Peter Haslinger: Nation und Territorium im tschechischen politischen Diskurs 1880–1938. München: Oldenbourg, 2010. X, 531 S., 20 Abb. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 117. ISBN: 978-3-486-59148-4.

Im Mittelpunkt sowohl deskriptiver als auch methodisch-theoretisch anspruchsvoller Arbeiten zum tschechischen Nationsbildungsprozess stand bisher die Formierung der „imagined community“. Die Etablierung und Durchsetzung nationaler Raumvorstellungen wurde nur am Rande und aus der Perspektive einer traditionellen Politikgeschichte analysiert. In seiner Habilitationsschrift arbeitet Peter Haslinger hingegen mit diskurshistorischen Methoden auf höchst überzeugende Weise heraus, dass neben dem Kollektiv der Raum das zweitwichtigste Paradigma nationaler Integrationsprozesse darstellt und sich die Eigendynamik nationalpolitischer Mobilisierung häufig erst durch die Verschränkung von Nation und Territorium erklären lässt.

In seiner Einleitung, in der er die gegenwärtige transdisziplinäre Raumforschung gekonnt resümiert, führt Haslinger die Erkenntnisse des „spatial turn“ mit denen des „linguistic turn“ und der Nationalismusforschung zum Konzept des „imagined territory“ zusammen. Das „imagined territory“ verkörpert dem Autor zufolge den „materialisierten Anspruch auf eine zeitlose Verankerung einer postulierten nationalen Gesellschaft in einem Territorium“ (S. 31).  Politische Relevanz erfährt es vor allem dann, wenn zwischen unterschiedlichen nationalen Bewegungen um die Formulierung und Durchsetzung konkurrierender „Besitz-, Verfügungs- und Gestaltungsansprüche“ innerhalb eines bestimmten Gebiets gerungen wird (S. 31). Es mag zwar auf den ersten Blick überraschen, dass Haslinger die Frage nach der Produktion, Repräsentation und Wirkungsmacht nationaler Wir-Räume am Beispiel des tschechischen politischen Diskurses zwischen 1880 und 1938 verfolgt, da hier nationalterritoriale Motive keineswegs immer offensichtlich waren. Dies resultierte nicht zuletzt daraus, dass das dem Diskurs zugrunde gelegte „imagined territory“ – die Länder der böhmischen Krone (Böhmen, Mähren und Österreich-Schlesien), die weder mit einem existierenden Staat noch mit einem Siedlungsgebiet der vorgestellten tschechischen Gemeinschaft identisch waren – weitgehend konstant geblieben ist. Haslinger weist in seiner diskursgeschichtlichen Feinanalyse jedoch nach, dass sich die Debatten und Entscheidungsfindungen tschechisch-nationaler Politik gerade wegen dieser scheinbaren Stabilität immer wieder an dem „imagined territory“ orientierten und ihre Aussagen oft erst dadurch politisch relevant wurden.

Im ersten Teil seiner Analyse untersucht Haslinger insbesondere die Debatten um das böhmische Staatsrechtsrecht, die Volkszählungen, die Sprachenfrage und die Verwaltungsreform vor dem Ersten Weltkrieg, die „eine neue Qualität der Territorialisierung des tschechisch nationalen Diskurses“ (S. 34) seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erkennen ließen. Besonders instruktiv ist Haslingers Analyse der böhmischen Staatsrechtsdiskussion. Er zeigt hier, dass neben der dynastisch-ständischen Legitimierungsgrundlage zwei territoriale Begründungsmuster eine wichtige integrative und identitäts­stiftende Funktion im tschechisch-nationalen Diskurs ausübten und für dessen programmatische Kohärenz sorgten: Die nationale Staatlichkeit war nicht nur mit einem konkreten Gebiet verbunden, sondern diente zugleich als wirkungsvolles Mittel zur Delegitimierung deutschböhmischer Territorialkonzepte. Wenngleich das böhmische Staats­recht in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg an politischer Relevanz verlor, blieb es die maßgebliche Referenzgrundlage für das „imagined territory“ im tschechischen politischen Diskurs. Trotz dessen hoher Kohärenz gab es durchaus Abstufungen, die sich in der Doppeldeutigkeit des Begriffs „český“ für „böhmisch“ und „tschechisch“ widerspiegelten. Parallel entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein weiterer Begriff – „českoslovanský“ – der die integrativen Tendenzen tschechisch-nationaler Politik zunächst gegenüber der mährischen Bewegung, später gegenüber den Slowaken zum Ausdruck brachte.

Gegenstand des zweiten Analyseteils ist die „Periode des diskursiven Bruchs, Übergangs und der Neukonfiguration“ (S. 34) der Territorialvorstellungen im tschechischen politischen Diskurs zwischen 1914 und 1919. Bereits unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs entstanden zwei konkurrierende, politisch zunächst bedeutungslose Konzeptionen eines zukünftigen Nationalstaates außerhalb der Habsburgermonarchie. Beide Konzeptionen, die zum einen vom politischen Exil und zum anderen von der einheimischen Politik vertreten wurden, unterschieden sich zwar hinsichtlich der anvisierten Staatsform und der geopolitischen Orientierung. In Bezug auf die territoriale Ausgestaltung basierten beide jedoch auf der Vereinigung der böhmischen Länder mit dem slowakischen Teil Nordungarns. Zu einer politisch maßgeblichen nationalterritorialen Mobilisierung kam es aber erst im Verlaufe des letzten Kriegsjahres. Bezeichnend hierfür war die um 1917 zunehmende Verwendung des Begriffs „Grenzland“ (pohraničí) für die vormals ausschließlich als „geschlossene Gebiete“ bezeichneten Regionen mit einer deutschen Bevölkerungsmehrheit. Das „Grenzland“ bezeichnete nunmehr das Siedlungsgebiet „der exponierten tschechischen Minderheiten“ (S. 229).

Mit dem „Grenzland“-Diskurs etablierte sich neben dem älteren, politisch jedoch nur wenig wirksamen territorialen Bohemismus ein zweiter wichtiger „Subdiskurs“, der die tschechische nationale Politik nach 1918/19 wesentlich prägen sollte. Haslinger zufolge waren zwar vor allem im ersten Jahrzehnt der neuen Republik Motive des territorialen Bohemismus in den Debatten tschechischer Politiker präsent, die sich um ein Entgegenkommen gegenüber den Deutschen bemühten. Gleichwohl setzte der „Grenzland“-Diskurs diesen Toleranzangeboten deutliche Grenzen, wie der Autor im dritten Teil seiner Untersuchung deutlich macht. Tschechische Politiker vermieden etwa in der Sprachen- und Verwaltungsfrage sämtliche Regelungen, die zu einer partiellen Verselbständigung der überwiegend von Deutschen bewohnten Randgebiete geführt hätten. Vielmehr entwarf ein Teil von ihnen ein Bedrohungsszenarium, das auf deutscher Seite seine Entsprechung in der Denkfigur des „nationalen Besitzstandes“ fand. Antiregionalistische Einstellungen ließen sich im tschechischen politischen Diskurs der Ersten Republik nicht nur gegenüber den böhmischen Randgebieten ausmachen, sondern auch gegenüber der neuen Osthälfte des Staates. Haslinger weist hier auf eindrucksvolle Weise die Beständigkeit des tschechischen „imagined territory“ nach, das weiterhin auf die drei böhmischen Länder fokussiert blieb. Wurde die Karpatoukraine ohnehin nur am Rande wahrgenommen, stellte die Slowakei meist nur eine „additive Erweiterung“ des nationalen Raums dar (S. 441). Der folgenreichste Bruch im nationalterritorialen Diskurs fand laut Haslinger im Herbst 1938 statt. Mit der erzwungenen Abtretung der Grenzregionen wurde das Staatskonzept nicht nur endgültig vom territorialen Bohemismus gereinigt, sondern langfristig führte dieser Bruch auch zu einer „Entwestlichung“ beziehungsweise „Slavisierung“ des nationalen Selbstbildes und zur Anerkennung der Slowaken als eigene Nationalität (S. 447).

Haslinger legt eine beachtliche Interpretation der Geschichte der tschechisch-nationalen Politik bis 1938 vor, die er um ihre territoriale Dimension erweitert. Das von ihm formulierte Konzept des „imagined territory“ macht die Studie darüber hinaus für ein Fachpublikum, das nicht unmittelbar an der tschechischen Nationalbewegung interessiert ist, äußerst lesenswert, da es zahlreiche Anregungen für zukünftige Forschungsvorhaben zum Verhältnis von Nation und Raum beinhaltet, etwa in Bezug auf die Interpretation von Landkarten. So ließe sich beispielsweise der Fokus noch stärker auf Visualisierungspraktiken nationaler Räume legen, ebenso wie auf die literarische ‚Verarbeitung‘ im politischen Diskurs entwickelter Raumvorstellungen.

Ines Koeltzsch, Prag

Zitierweise: Ines Koeltzsch über: Peter Haslinger: Nation und Territorium im tschechischen politischen Diskurs 1880–1938. München: Oldenbourg, 2010. X, 531 S., 20 Abb. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 117. ISBN: 978-3-486-59148-4, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Koeltzsch_Haslinger_Nation_und_Territorium.html (Datum des Seitenbesuchs)

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