Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 287-289
Verfasst von: Danijel Kežić
Buchenau, Klaus: Auf russischen Spuren. Orthodoxe Antiwestler in Serbien, 1850-1945, Wiesbaden: Harrassowitz, 2011. 519 S. = Balkanologische Veröffentlichungen, 51. ISBN 978-344-7062-76-3.
Als ich den Titel des Buches zum ersten Mal las, fragte ich mich sogleich, was der Autor unter dem Begriff „orthodoxe Antiwestler“ versteht. Sehr schnell konnte ich feststellen, dass er mit „orthodoxe“ den christlich-orthodoxen Klerus versteht. Was sich hinter „Antiwestler“ verbirgt, ist weniger eindeutig und es sind verschiedene Definitionen dieses Begriffs denkbar. Der Autor versucht deswegen schon in der Einleitung, diese Frage ausführlich zu beantworten, und seine Entscheidung zu rechtfertigen, „Antiwestler“ als zentralen Begriff dieses Buches zu benutzen: „Unter Antiwestlertum wird hier keineswegs jede Kritik am Westen, an Westlern, westlichen Staaten oder Institutionen verstanden […]. Gemeint ist in erster Linie die Kritik an Prinzipien, die dem Westen zugeschrieben werden bzw. tatsächlich zueigen sind. Mit anderen Worten – ich bezeichne vor allem diejenigen Personen als Antiwestler, die sich selbst als solche sehen.“ (S. 11) Daraus lässt sich schließen, dass es im Buch vor allem um den antiwestlich geprägten Teil des Klerus der Serbisch-Orthodoxen Kirche (SOK) geht, der die westlichen Prinzipien in Frage stellt bzw. sie ablehnt. Das Buch will vor allem die Frage beantworten, ob solche antiwestliche Tendenzen in der SOK das authentische Erbe der SOK darstellen oder erst im 19. und 20. Jh. entstanden sind und konstruiert wurden. Insbesondere soll die Rolle Russlands und der Russisch-Orthodoxen Kirche in diesem Zusammenhang untersucht wurden.
Dieses Buch stellt gleichzeitig eine Geschichte der Serbisch-Orthodoxen Kirche, eine Sozial- und Alltagsgeschichte der serbischen Studenten an Priesterseminaren und Akademien in Russland und Serbien im 19. und 20. Jh. und eine Ideengeschichte der führenden serbisch-orthodoxen Denker dar. Damit sind nur die wichtigsten Themen genannt. Deswegen wendet sich der Autor auch nicht nur an Fachleute, sondern auch an Studierende, die das Werk als Handbuch im Studium benutzen können.
Technisch ist das Buch ausreichend ausgestattet. Neben einem sehr praktischen Personenregister am Ende findet man auch die Fotos aller für das Thema wichtigen Personen. Noch eine Besonderheit dieses Buches sind ungewöhnlich viele Zitate (insgesamt 303), die der Autor überwiegend sinnvoll einfügt. Besonders wertvoll sind die aus vielen unveröffentlichten Quellen stammenden Zitate.
Neben Einleitung und Zusammenfassung ist das Buch in fünf weitere Kapitel unterteilt. Chronologisch zerfällt in zwei große Teile mit der Zäsur beim Jahr 1918. Im ersten Teil beschäftigt sich der Autor mit der Geschichte der Serbisch-Orthodoxen Kirche seit ihrer Gründung und mit dem Schwerpunkt auf dem 19. Jh. Gleichzeitig verfolgt er den Prozess der Entstehung des serbischen Nationalstaates und der Modernisierung der serbischen Gesellschaft. Die im 19. Jh. neu entstandene säkulare politische und kulturelle serbische Elite war überwiegend an europäischen Universitäten ausgebildet und prowestlich. Unter westlichem Einfluss standen auch die Kleriker der SOK in der Habsburger Monarchie. Die Kirchenorganisation in Serbien war nach der osmanischen Eroberung des Balkans sehr geschwächt und blieb bis 1830 unterentwickelt und vom Konstantinopel abhängig. Erst als die SOK 1830 halbautonom wurde, fing der Prozess des Ausbaus einer modernen Kirchenorganisation in Serbien an. Im Buch schildert der Autor sehr detailliert den Prozess der Schaffung der zukünftigen geistigen Elite der SOK durch die Ausbildung in Russland einerseits und die Eröffnung von Priesterseminaren in Serbien andererseits. Aus Russland kamen die ersten slawophilen Ideen nach Serbien. Der Autor bietet uns in diesem Teil des Buches auch eine sehr interessante und ausführliche Alltagsgeschichte der serbischen Theologiestudenten in Russland im 19. Jh. Am Ende wird dem Leser immer bewusster und deutlicher die Ambivalenz zwischen der westlich geprägten politischen Elite Serbiens und der immer mehr slawophil und antiwestlich geprägten SOK und der gleichzeitigen Existenz zweier Modelle des serbischen Nationalbewusstseins: Das eine war säkular, modern und westlich geprägt, und das andere war religiös, konservativ und antiwestlich.
Im zweiten Teil beschäftigt sich der Autor mit der Entwicklung der SOK im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, wo sie unter ganz neuen Umständen tätig sein musste. Den Status einer privilegierten Staatskirche, den die SOK im Königreich Serbien bis 1918 innehatte, musste sie im neuen Staat kampflos aufgeben. Stattdessen musste die SOK gegen die Katholische Kirche um den Primat kämpfen, weil beide Kirchen offiziell gleichberechtigt waren. Die SOK war in der ersten zehn Jahren nach 1918 überwiegend damit beschäftigt, eine einheitliche Kirchenorganisation für alle Orthodoxen im neuen Staat zu schaffen. Erst danach konnte sich die SOK stärker in der Politik des Königreichs einmischen und die Defensive verlassen. Der immer größere Einfluss der SOK, die seit den 1930er Jahren inoffiziell wieder als Staatskirche agieren konnte, gipfelte im Konkordats-Kampf von 1937, als es dem orthodoxen Klerus gelang, die Entscheidung des Parlaments für ein Konkordat mit dem Vatikan zu verhindern. Im Buch wird auch die Rolle der russischen Emigration im Königreich Jugoslawien ausführlich diskutiert.
Der Autor behandelt besonders ausführlich zwei Personen, die er als Hauptideologen der SOK bezeichnet: Nikolaj Velimirović und Justin Popović. Es werden ausführliche Biographien beider und eine Darstellung ihrer wichtigsten Werke geboten. Sie entwickelten unter dem Einfluss der Slawophilen und Dostojevskijs eine authentische serbisch-orthodoxe Weltsicht, die antiwestlich und antieuropäisch war. Unter dem Einfluss von Velimirović entstand in Serbien auch die erste orthodoxe Laienbewegung der Bogomoljci. Ohne sie wäre die schnelle Entwicklung des serbisch-orthodoxen Mönchtums im 20. Jh. unvorstellbar gewesen.
Der Autor unternimmt in dem Buch den Versuch, die serbische nationale Mythologie zu dekonstruieren. Die Entwicklung solcher Mythen und einer nationalen Ideologie betrachtet er als Konstrukt der modernen Zeit. Die Erkenntnisse aus diesem Buch fügen sich gut zusammen mit dem Konzept von Eric Hobsbawm über den konstruktiven Charakter der Geschichte und der Traditionen. Der Autor sieht im serbischen Antiwestlertum einen Import aus Russland im 19. Jh. Ihm gelingt es auch, den konstruktiven Charakter von Svetosavlje zu bewiesen. Der Mythos von der jahrhundertelangen Tradition des Sava-Kults im serbischen Volk ist dem zufolge das bewusste Konstrukt eines Exil-Russen namens Titov. (S. 295) Auch die Person und die Ideen von Bischof Nikolaj Velimirović versucht der Autor zu entmythologisieren. Viele neue Fragen um Velimirovic werden aufgeworfen, aber leider bekommt der Leser selten eine neue Antwort und manchmal findet man auch widersprüchliche Behauptungen, insbesondere bei der Interpretation der Werken Nikolajs und bei der Behandlung seiner Rolle während des Zweiten Weltkriegs.
Das Buch „Auf russischen Spuren – Orthodoxe Antiwestler in Serbien 1850–1945“ wird eine verpflichtende Lektüre für alle sein, die sich für die Geschichte der Serbisch-Orthodoxen Kirche, die Geschichte Serbiens und Jugoslawiens und für den konstruktiven Charakter von modernen Nationen interessieren.
Zitierweise: Danijel Kežić über: Buchenau, Klaus: Auf russischen Spuren. Orthodoxe Antiwestler in Serbien, 1850-1945, Wiesbaden: Harrassowitz, 2011. 519 S. = Balkanologische Veröffentlichungen, 51. ISBN 978-344-7062-76-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kezic_Buchenau_Auf_russischen_Spuren.html (Datum des Seitenbesuchs)
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