Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  603–605

Stefan Rohdewald, David Frick, Stefan Wie­der­kehr (Hrsg.) Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.–18. Jahrhundert) – Lithuania and Ruthe­nia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th–18th Centuries). Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2007. 365 S., Abb., Tab. = Forschun­gen zur osteuropäischen Geschichte, 71. ISBN: 978-3-447-05605-2.

Die Expansion des Großfürstentums Litauen in den ostslavischen Siedlungsbereich im 14. Jh. und die Union mit Polen 1385 schufen einen neuen politischen und kulturellen Handlungsraum, der in der modernen Geschichtsschreibung meist als Vorgeschichte der litauischen, weiß­russischen oder ukrainischen Nation behandelt wird, wodurch freilich die gemeinsame kulturelle Spe­zifik dieser Territorien aus dem Blick gerät. Erst in den vergangenen Jahren ist die Geschichte dieses westlich-ostslavischen Kontakt­raums in transnationaler Fragestellung in den Blick der Forschung geraten, woran auch einige der Beiträger des vorliegenden Bandes ihren Anteil haben.

Nach einer Skizzierung der verschiedenen nationalen Forschungstraditionen zu der Region und einer ausführlichen Darlegung des Konzepts der transkulturellen Kommunikation durch die drei Herausgeber widmen sich 14 Beiträge verschiedenen Aspekten der Beziehungen zwischen Polen, Ruthenen und Litauern, römisch-katholischen, unierten und orthodoxen Christen. Im ersten Themenblock („Adelige und Städter“) sind sechs mikrohistorische Studien zu unterschiedlichen Bereichen des gesellschaft­lichen Lebens zusammengefasst. Yuriy Za­zuliak trägt sozialgeschichtliche Beobachtungen zur Entstehung des Adelsgeschlechts der Korčak in der Region von Przemyśl während der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vor, wonach das Geschlecht – entgegen der Traditionsbildung des frühen 17. Jahrhunderts – ein kognatischer Zusammenschluss bestimmter ruthenischer Familien war. Die übrigen Beiträge dieses Abschnitts verfolgen einen stadtgeschichtlichen Zugang. Myron Kapral’ geht mit Blick auf die Ruthenen, Armenier und Juden verschiedenen Hinweisen auf Assimilierungsvorgänge durch sozialen Aufstieg, Glaubenswechsel und konfessionell gemischte Ehen im Lemberg des 15. bis späten 18. Jahrhunderts nach. Krzysztof Stopka konkretisiert die Frage nach den interethnischen Verhältnissen am Beispiel von Kam’janec-Podil’s’kyj in Podolien, indem er die Beziehungen zwischen der polnischen Mehrheitsbevölkerung und den Ruthenen und Armeniern aus der Perspektive armenischer erzählender Quellen und Gerichtsakten der Jahrzehnte um 1600 in den Blick nimmt. Noch detailbezogener ist die Fragestellung von David Frick, der Ehescheidungsfälle aus Vilnius aus den Jahren um 1670 vorstellt. Vor dem Hintergrund einer multikonfessionellen städtischen Gesellschaft wird an Beispielen wahrscheinlich gemacht, dass förmliche oder faktische Trennung der Ehepartner nicht nur bei orthodoxen, sondern auch bei unierten und katholischen Beteiligten nicht ungewöhnlich gewesen sein muss. Das Zusammenleben der einzelnen Konfessionen von Orthodoxen, Unierten, Katholiken und Juden in Polack in der Mitte des 17. Jahrhunderts und das Verhalten des Magistrats, aus dem nach 1640 die Orthodoxen ausgeschlossen waren, untersucht Stefan Rohdewald, wobei er zeigen kann, dass der Magistrat sich nicht zu einem Konfessionalisierungsinstrument entwickelte, vielmehr im 17. Jahrhundert eine Politik der Moderation zwischen den Konfessionen verfolgte. Eine andere Perspektive verfolgt Ekaterina Emeliantseva, die sich mit den Anhängern von Jakob Frank in Warschau in den Jahren von etwa 1760 bis 1820 befasst. Sie überprüft anhand verschiedener Raster deren Osszilieren zwischen verschiedenen Loyalitäten und die Intensität ihrer Sozialkontakte in der eigenen Gruppe und zur katholischen Umwelt und zeigt, dass der Alltag von einer situativen Religiosität geprägt war. Im zweiten und dritten thematischen Block werden verschiedene kirchen- und religionsgeschichtliche Konstellationen vorgestellt. Antoni Mironowicz bietet einen Überblick über die Beziehungen zwischen unier­ten und orthodoxen Christen im 17. Jahrhundert. Der Kosakenaufstand von 1648 bedeutete hier eine Wende: Folgten bis dahin noch drei Viertel der Kirchen dem orthodoxen Ritus, so war die Orthodoxie am Ende des Jahrhunderts auf das Bistum Mahiljoŭ beschränkt. Jacek Kroch­mal umreißt die Beziehungen zwischen katholischer und orthodoxer Kirche am Beispiel des Bistums Przemyśl über einen langen Zeitraum, von der Inkorporation des Territoriums in Polen in der Mitte des 14. Jahrhunderts bis zur ersten Teilung Polens. Hier können verschiedene Stufen unterschieden werden: von dem anfänglichen Aufbau einer katholischen Infrastruktur, auch durch Übernahme orthodoxer Kirchen, über ein zunehmend konfliktreicheres Verhältnis zwischen Orthodoxie und Katholizismus im 15. Jahrhundert, das sich an der unterschiedlichen Feiertagspraxis und dem Streit um Abgaben entzündete, schließlich über die Frage der Brester Union, zu der sich im 17. Jahrhundert schätzungsweise die Hälfte der ruthenischen Gemeinden bekannte, bis zur weitgehenden Übernahme der Kirchenunion im 18. Jahrhundert, als die unierte und die römische Kirche gleichberechtigt auftraten, obwohl die soziale Verankerung beider durchaus unterschied­lich war, galt doch die erstere als bäuerlich-rückständig im Unterschied zum adeligen lateinischen Ritus. Einen speziellen Aspekt des kirchlichen Alltags beleuchtet Piotr Wawrze­niuk, der Beispiele gewaltsamer Konflikte im Gemeindeklerus der Diözese Lemberg im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts vorstellt; die Klagen gegen einen Teil der Priester bezogen sich auf Fehlverhalten und zeigen, dass die Reformbemühungen des Bischofs Josyf Šum­ljanskyj wegen der Bindung der Priester in ihrer ländlichen Umgebung und an deren Normen nur teilweise erfolgreich waren. Zwei weitere Beiträge widmen sich theoretischen Aspekten: Lilya Berezhnaya geht der Ausbildung des Topos von Kiev als dem Neuen Jerusalem nach und kann – entgegen dem älteren Forschungsstand, der das Aufkommen in die Zeit um 1670 datierte – nach Musterung der Vorstellungen katholischer, unierter und orthodoxer Theologen zeigen, dass der Topos in der theologischen Literatur nach der Union von Brest belebt wurde, wobei die katholischen – und ähnlich die unierten – Schriftsteller die symbolische Seite und die Notwendigkeit der Überwindung des Schismas betonten, während die orthodoxen Autoren den Translationsgedanken und den Gegensatz zwischen Rom und Jerusalem akzentuierten. Alfons Brüning vermittelt genauere Einblicke in die ekklesiologischen Vorstellungen Kiever Theologen um 1640, die mit dem Kiever Metropoliten Petro Mohyla verbunden sind, und verweist auf die Bezüge dieses Kirchendenkens zu den politisch-kulturellen Rahmenbedingungen der orthodoxen Kirche in der Adelsrepublik. Die letzten drei Beiträge behandeln einzelne Aspekte der religiösen Praxis, den Heiligenkult, den geistlichen Gesang und die religiöse Malerei. Matthias Niendorf greift über den Begriff des religiösen Synkretismus das Zusammenstoßen westlicher und östlicher Heiligenkulte auf dem Gebiet des Großfürstentums Litauen auf und verweist auf Tendenzen der Verwestlichung der unierten Kirche und der Byzantinisierung der katholischen Kirche, die sich in der religiösen Kunst und im Kult sowie in der Übernahme orthodoxer Heiliger im Katholizismus zeigt, und beschreibt dabei Tendenzen der Konfrontation wie des Synkretismus. Wechselseitige kulturelle Überlagerungen und Beeinflussungen beobachtet auch Achim Rabus bei den ostslavischen Kantionalen, deren Anfänge in der Mitte des 16. Jahrhunderts liegen und die unter dem Einfluss aus Polen kommender reformierter volkssprachlicher Gesänge entstanden sind; erst nach der Mitte des 17. Jahrhunderts, nach der Teilung der Ukraine und der Übersiedlung Kiever Gelehrter nach Moskau, gab es jedoch im Moskauer Raum eine Kirchenslavisierung des polnisch-ruthenischen Liedgutes und An­fänge kirchenslavischer Neuschöpfungen. Kul­turelle Überlagerungen und Beeinflussungen zwischen Ost und West beschreibt Giedrė Mickūnaitė auch in der litauischen Malerei. Detailstudien an einer Kruzifixszene in der Krypta unter der Kathedrale in Vilnius aus dem späten 14. Jahrhundert und an einer Mutter-Gottes-Darstellung aus Trakai vom frühen 17. Jahrhundert zeigen die unbewusste wie die bewusste Aufnahme von orthodoxen Bildtraditionen, hinter denen freilich ganz unterschiedliche kulturgeschichtliche Konstellationen ausgemacht werden können.

Die Stärke des Sammelbandes wird man darin sehen dürfen, dass die Einzelstudien methodisch, quellenmäßig und thematisch verschieden angelegte Aspekte beleuchten und durchweg transregionale oder transkulturelle Fragestellungen haben. Allerdings machen die Beiträge nicht deutlich, ob es sich bei den im Buchtitel genannten östlichen Gebieten der Adelsrepublik um eine eigene historische Großregion, oder, wie die Herausgeber eingangs postulieren, eine „Kommunikationsregion“ handelt; vielmehr legen einige der vorgetragenen Beobachtungen nahe, dass Austausch- und Einflussvorgänge mit Polen wie mit dem orthodox-ostslavischen Kernraum wesentlich waren und bei der Konturierung des Kommunikationsraums mitgedacht werden müssen. Die Benutzbarkeit des Bandes hätte durch ein Personen- und Ortsnamensregister oder zumindest eine Ortsnamenskonkordanz gewonnen.

Norbert Kersken, Marburg/Lahn

Zitierweise: Norbert Kersken über: Stefan Rohdewald, David Frick, Stefan Wiederkehr (Hrsg.) Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.–18. Jahrhundert) – Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th–18th Centuries). Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2007. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 71. ISBN: 978-3-447-05605-2, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 603–605: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kersken_Rohdewald_Litauen_und_Ruthenien.html (Datum des Seitenbesuchs)