Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 287-289
Verfasst von: Karl Kaser
Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt. Regensburg: Pustet, 2011. XL, 839 S., Ktn., Tab. ISBN: 978-3-7917-2368-6.
Das von den beiden Südosteuropahistorikern Schmitt (Wien) und Clewing (Regensburg) herausgegebene Werk erhebt den Anspruch, ein Handbuch für eine breitere als akademische Öffentlichkeit sein zu wollen. Dieser Anspruch ist nicht unangemessen, zumal die dafür nötigen Ingredienzien gegeben sind: leichte Lesbarkeit, guter Zugang durch Register (Personen und Geografie), eine allgemeine Bibliografie sowie spezielle Kapitelbibliografien, Hinweise zur Aussprache spezieller Buchstaben bzw. Buchstabenkombinationen in Sprachen der Region, eine Ortsnamenkonkordanz, eine zehnseitige Liste von ereignisgeschichtlichen „Grunddaten“ ab 148 v. Chr. („Makedonien wird römische Provinz“) sowie 18 Farb- und 17 Schwarz-Weiß-Karten, die zum Teil speziell für diesen Band angefertigt wurden. Bemerkenswert ist, dass von diesen Karten, drei Umschlagbildern und Fotos der Herausgeber abgesehen der Band frei von visuellen Angeboten bleibt.
Die beiden Herausgeber vermeiden inhaltliche Experimente und bieten gemeinsam mit ihren Kapitelautoren solides Handwerk, was sich auch in der Liste der mitschreibenden Autoren widerspiegelt: Neben den Herausgebern, deren Ausführungen umfangmäßig dominieren, finden sich qualitätssichernde Namen wie Ulf Brunnbauer, Thede Kahl, Markus Koller, Günter Prinzing, Gottfried Schramm, Holm Sundhaussen oder Wim van Meurs. In 14 Kapiteln wird von Betrachtungen über „Raum und Geschichte“ bis zu „Zeitschichten der südosteuropäischen Gegenwart“ die Geschichte des südöstlichen Europa in überwiegend politikgeschichtlicher, wenngleich nationalstaatliche Enge vermeidender Manier abgewickelt. In formaler Hinsicht wagen die Herausgeber ein auf den ersten Blick innovatives Experiment, indem sie den Strom der Geschichte in Quer- und Längsschnitte kanalisieren. Sie setzen fünf „Querschnitte“: 900, 1200, 1500, 1800 und 2008. Diese fallen unterschiedlich umfangreich aus: der 900er umfasst gerade 40 Seiten, der 1800er hingegen beinahe 450, der 2008er gerade knapp acht. Umfang signalisiert Bedeutung bzw. Wissensstand.
Die fünf Querschnitte werden von zehn epochenübergreifenden thematischen „Längsschnitten“ ergänzt; etwa über Landschaftsformen, historische Demografie, Kirchengeschichte, Verkehr und Handel, Volkskultur, Familiengeschichte, Zwangsmigrationen und Erinnerungskulturen. Diese Längsschnitte haben mit insgesamt 30 bis 40 Seiten marginale Bedeutung. Ich finde den Gedanken der Gliederung von Geschichte in Quer- und Längsschnitte für ein Handbuch grundsätzlich sehr brauchbar, wenngleich die Marginalisierung der Längsschnitte irritiert und, wie noch zu zeigen sein wird, auch Probleme aufwirft. Es lohnt sich, über einige weitere konzeptionelle Überlegungen der Herausgeber nachzudenken. Manche formulieren sie explizit, andere implizit:
1. Die temporale Dimension bzw. die Abschnittsgliederung ist von politischer Korrektheit in dem Sinn gekennzeichnet, dass kein Zweifel daran aufkommen soll, dass die Region Teil der europäischen Geschichte ist. Dabei entstand eine diskutierenswerte Epochengliederung von Früh-, Hoch- und Spätmittelalter, Vormoderne und Moderne, die sich interessanterweise nur teilweise und etwas inkonsequent im Inhaltsverzeichnis widerspiegelt. Das Mittelalter beginnt, wie die Herausgeben ausführen, mit dem Zusammenbruch des spätantiken römischen Imperiums auf dem Balkan und endet mit den osmanischen Eroberungen. Darauf folgen drei Jahrhunderte (1500 bis 1800) der Vormoderne; im habsburgischen und venezianischen Bereich in Form der Frühen Neuzeit, im osmanischen in Gestalt einer Vormoderne, die an dieser Stelle nicht näher erläutert wird bis auf den Hinweis, dass sie nur im osmanischen Gesamtzusammenhang mit dem Nahen Osten und Nordafrika gedeutet werden könne (S. 5–6). Diese Schwierigkeit, eine umfassende Epochengliederung zu entwerfen, die den unterschiedlichen Geschichtsverläufen vom historischen Ungarn bis zum Bosporus Genüge tut, hat offenbar auch eine geschichtsräumliche Dimension.
2. Diese Schwierigkeiten in der temporalen Dimension stehen mit einem diskutierenswerten Raumbegriff im Zusammenhang, der meiner Auffassung nach auf einem antiquierten Südosteuropabegriff, der mehr Probleme schafft als löst, beruht. Wie bereits angedeutet, umfasst für die Herausgeber dieser Begriff etwa den geografischen Bereich der Länder der Stephanskrone und die südlich-südöstlich davon gelegenen Gebiete bis zum Bosporus bzw. östlichen Mittelmeer. Ich verstehe nicht ganz, weshalb die Herausgeber auf diesem Raumbegriff beharren, wenn es offensichtlich ist, dass sie damit die Probleme der Epochengliederung nicht zufriedenstellend bewältigen können, weil eine lateinisch-katholisch-protestantisch-habsburgisch geprägte Region, die von den Herausgebern auch als „nördliches Südosteuropa“ bezeichnet wird, und eine ostkirchlich-byzantinisch-muslimisch-osmanisch geprägte Region, die konsequenterweise als „südliches Südosteuropa“ bezeichnet werden müsste, konzeptionell schwer miteinander verknüpfbar sind. Meiner Meinung nach wäre es in pragmatischer Hinsicht sinnvoller, das „nördliche Südosteuropa“ jener Region zuzuordnen, in die es sich auch nach Auffassung der Herausgeber wesentlich besser fügt, nämlich zu Zentraleuropa. Dies würde auch das von den Herausgebern nicht thematisierte Problem lösen, dass Länder wie Ungarn, Slowenien und Kroatien seit zwei Jahrzehnten mit großer Vehemenz nicht als südosteuropäisch klassifiziert werden wollen. Wozu sie also unter einen Schirm stellen, den sie ablehnen? Für das verbleibende südliche Südosteuropa – also das byzantinisch-osmanische Europa – steht mit dem von den Herausgebern gemiedenen Begriff „Balkan“ ohnedies eine Bezeichnung zur Verfügung, die viele ihrer negativen Konnotationen verloren hat und frei von dem nationalsozialistischen Makel des hier protegierten Südosteuropabegriffs ist. Dies würde auch Möglichkeiten eröffnen, nicht nur nach den europäischen Verflechtungen der Balkangeschichte zu suchen, sondern auch nach den kleinasiatisch-nahöstlich-kleineurasischen.
3. Die Konzeption überdimensionierter Querschnitte im Vergleich zu unterdimensionierten Längsschnitten behindert die zufriedenstellende Behandlung zentraler Fragen wie jene nach den bis heute andauernden ökonomischen Entwicklungsdifferenzen zwischen dem südlichen und dem nördlichen Südosteuropa einerseits und den beiden Südosteuropas und Zentral- sowie Westeuropa andererseits. Die Ausführungen dazu sind in den epilogischen „Zeitschichten der südosteuropäischen Gegenwart“ ebensowenig ergiebig wie Schmitts und Ursprungs Ausführungen auf S. 195, wo dieser Frage auf einer halben Seite nachgegangen und konstatiert wird, dass die orthodoxe Welt im Spätmittelalter „immer weiter hinter die Entwicklung des Abendlandes“ zurückgefallen sei. Die Ursachen seien im Wesentlichen darin gelegen, dass sich das orthodoxe Südosteuropa bewusst von abendländischen Entwicklungen abgewandt habe. Den orthodoxen Eliten sei die Bewahrung des spirituellen Erbes wichtiger gewesen, als westliche Hilfe gegen die vorrückenden Osmanen anzunehmen. An der Herausbildung von Entwicklungsunterschieden, „die sich beinahe in allen Bereichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens beobachten lassen“, trugen demnach die orthodoxen Eliten Schuld – eine gewagte Überlegung, die vielleicht an Max Webers Thesen über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus zu erinnern und einen innerchristlichen Kulturkampf historiografisch zu schüren vermag. Über außerreligiöse Ursachen, die mit Sicherheit maßgeblicher waren als die mönchische Hingabe an den Hesychasmus, erfährt man in diesem Zusammenhang nichts. Hier rächt sich, dass wichtige religionswissenschaftliche Aspekte nicht thematisiert werden und die Kirchengeschichte auf einen randständigen, fünfseitigen Längsschnittsbeitrag reduziert wird. Weitere Antworten auf diese Frage hätten die Längsschnitte „Landschaftsformen und ihre Nutzbarkeit“, „Historische Demographie“, „Zentrum und Peripherie“ sowie „Verkehr und Handel“ geben können, was sie allerdings nicht tun, weil die Herausbildung ökonomischer Entwicklungsdifferenzen nicht in Kurzbeiträgen diskutiert werden kann. Dieses Beispiel zeigt exemplarisch, dass Querschnitt und Längsschnitt, zumindest wie hier konzipiert, nicht der Weisheit letzter Schluss sind.
4. Eine nur indirekt erschließbare Erkenntnis des Handbuchs ist, dass südosteuropäische Geschichte noch immer eine vornehmlich von Männern für Männer geschriebene ist. Es ist einzelnen Autoren zwar das Bemühen nicht abzusprechen, eine fraueneinbindende Sprache zu finden, dies ändert aber nichts an dem Umstand, dass sich unter den 14 Autoren nur eine einzige Autorin, Beatrix F. Romhány als Mitautorin Günter Prinzings, befindet. Frauengeschichtliche oder gar geschlechterhistorische Themen haben es nicht einmal in die Längsschnitte oder in die Titel von Unterunterabschnitten geschafft, was angesichts des beträchtlichen Bandumfangs bemerkenswert ist. Ich unterstelle den beiden Herausgebern keine bewusst eingenommene frauenignorierende Haltung, sondern eine mangelnde Sensibilität für Geschlechterfragen im Wissenschaftsbetrieb und in der Geschichtsschreibung, die darin resultiert, dass ihr Handbuch zwar in Europa-, nicht jedoch in Geschlechterfragen politisch korrekt ist.
Mein Befund lässt sich abschließend wohl am treffendsten mit „durchwachsen“ charakterisieren. Dem großen Verdienst, das erste Handbuch der südosteuropäischen Geschichte in postsozialistischer Zeit herausgegeben zu haben, steht die Politik der Herausgeber, bestimmte Themenbereiche asymmetrisch umfangreich zu behandeln und andere entsprechend zu marginalisieren oder gar auszuschließen, entgegen. Das Handbuch macht zudem deutlich, dass das Beharren auf einem überlebten zeiträumlichen Südosteuropakonzept der Südosteuropaforschung nicht guttut.
Zitierweise: Karl Kaser über: Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Konrad Clewing und Oliver Jens Schmitt. Regensburg: Pustet, 2011. XL, 839 S., Ktn., Tab. ISBN: 978-3-7917-2368-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Kaser_Clewing_Geschichte_Suedosteuropas.html (Datum des Seitenbesuchs)
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