Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 3, S. 433-438

Verfasst von: Kerstin S. Jobst

 

Mythos Krim – nur religiös?

Mara Kozelsky: Christianizing Crimea. Shaping Sacred Space in the Russian Empire and Beyond. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010, 270 S., ISBN-13: 978-0-87580-412-5.

Sei es nun wegen ihrer landschaftlichen Schönheit oder wegen der heroisierten, aber letztlich vergeblichen Verteidigung Sevastopol’s im Krimkrieg, die ihre Wiederholung im Zweiten Weltkrieg fand – die Krim war und ist ein bedeutender russischer Erinnerungsort, welcher allerdings nun Teil des ukrainischen Staates ist. Es ist kaum übertrieben festzustellen, dass die genannten und weitere, mit der schönen Halbinsel an der nördlichen Schwarzmeerküste verbundenen Ereignisse im kollektiven russischen Bewusstsein den Urstoff für eine ganze Reihe neuzeitlicher Mythen gebildet haben. Solcher Art Mythos basiert auf historisch weitgehend unstrittigen Fakten, die gleichwohl mit einer spezifischen Bedeutung aufgeladen werden. Im Fall der Krim-Mythen wäre hier beispielsweise die 349 Tage währende Belagerung Sevastopols im Krimkrieg zu nennen. Bis in die Gegenwart ‚überzeugt‘ dieser Neumythos durch seine Emotionalität, die implizite Vorstellung von einem kollektiven Heldentum eines antizipierten „russischen Volkes“. Gegen die Dekonstruktion solcher und anderer Mythisierungen durch historische Forschungen zeigen sich nationale Mythen in der Regel erstaunlich resistent. Dies gilt auch für einen weiteren zentralen mit der Krim verbundenen Mythos, nämlich den der (angeblichen) Taufe des Großfürsten Vladimir Ende des zehnten Jahrhunderts auf der Krim: Auf den Übertritt des bis dahin – so die Lesart – lasterhaften Vladimir zum Christentum folgte die Christianisierung der Kiever Rus’. Schenkt man der sog. Korsuner Legende aus der „Erzählung der vergangenen Jahre“ („Nestorchronik“) aus dem 12. Jahrhundert Glauben, so ließ Vladimir sich 988 in der byzantinischen Stadt Chersones, unweit des heutigen Sevastopol gelegen, taufen. In neueren Forschungen wird jedoch davon ausgegangen, dass sich der Großfürst bereits als Christ auf den Feldzug Richtung Süden begeben hat. Ungeachtet dessen ist die Bedeutung des Motivs der Krim als Wiege des russischen Christentums seit dem 19. Jahrhundert elementar für die Legitimierung zarischer Herrschaft über die 1783 annektierte Halbinsel im Schwarzen Meer.

An diesem Punkt setzt Kozelskys Dissertation (University of Rochester/NY) an, indem sie primär aus der Perspektive von Akteuren der Orthodoxen Kirche die Bemühungen um Installierung eines Russischen Athos auf der Krim als symbolischer Bezugspunkt der Orthodoxie nachzeichnet, welche in Folge des Krimkriegs ihren Höhepunkt erreichten. Mit Rekurs auf die angebliche Taufe Vladimirs 988 in Chersones und die Krim als ein Zentrum des Frühchristentums versuchten ihre Protagonisten wie der Erzbischof Gavril (Rozanov) von Cherson und Taurien (18271848), das orthodoxe Christentum auf der zu diesem Zeitpunkt noch überwiegend muslimischen Halbinsel zu stärken. Teils mit, teils ohne die Unterstützung staatlicher Stellen wurde vor allem der (Wieder-)Aufbau von Kirchen und Klöstern zur Implementierung einer orthodoxen Infrastruktur betrieben. Mit Hilfe der sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts professionalisierenden Archäologie sollte zudem der ‚Beweis‘ geführt werden, dass die Krim seit dem 3. Jahrhundert durchgehend ein vom Christentum geprägter Ort gewesen sei. Die muslimischen Krimtataren degenerierten in diesem Diskurs zuweilen zu einer in der Vergangenheit zwangsislamisierten Gruppe, und die russische Annexion wurde als Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustandes interpretiert. „Christianizing Crimea“ versteht die Verfasserin als einen umfassenden Ansatz orthodoxer Kirchenführer zur Aneignung eines religiös fremden kolonialen Gebiets. Dabei geht es erstens um die Missionierung der nichtorthodoxen Bewohner auf der multiethnischen Krim; wegen des von der Zarin Katharina II. verfügten und auch von ihren Nachfolgern nicht in Frage gestellten Missionsverbots unter der muslimischen Bevölkerung waren ihr allerdings enge Grenzen gesetzt. Die russisch-orthodoxe Kirche musste sich daran wohl oder übel halten. Die orthodoxe Mission  konzentrierte sich deshalb weitgehend auf außerhalb der Kirche stehende Konfessionen wie die der Altgläubigen, Katholiken (z.B. polnischstämmige Grundbesitzer) oder Protestanten (z.B. deutsche Kolonisten). In „Christianizing Crimea“ wird zweitens zudem nach der Ausgestaltung des öffentlichen Raums als orthodox durch die Schaffung einer spezifisch markierten Infrastruktur gefragt; diese erfolgte, wie gesagt, durch die Gründung von Klöstern, Kirchen und die schließlich im Jahr 1860 vollzogene Errichtung einer eigenen Diözese. Diesem erweiterten Ansatz von Christianisierung, der nicht nur den „Kampf um die Seelen“, sondern eben auch den räumlichen Aspekt einbezieht, kann die Rezensentin gut folgen.

In der Einleitung wird u. a. auf die gerade im Fall der russischen Nationsbildung schwierige Grenzziehung zwischen religiösen und säkularen Sphären hingewiesen; hinzuzufügen wäre freilich die nicht minder komplizierte Scheidung zwischen Nation und Imperium, welche ja gerade im Russländischen Reich mit seinem transkontinentalen Ausgreifen ein letztlich ungelöstes Problem darstellte. Gleichwohl gelingt es Kozelsky, die Stellung der Halbinsel innerhalb des multireligiösen Zarenreichs zwischen einzigartig (vor allen Dingen im Hinblick auf ihre Multiethnizität) und typisch (etwa in Bezug auf imperiale Herrschaft und kirchliche Verwaltung) auszuloten. Die Ausgangslage und die Probleme der orthodoxen Hierarchie im Süden des Reiches für das Projekt eines Russischen Athos auf der Krim, das seit den 1830er Jahren unter den Erzbischöfen Gavril und Innokentij Konturen annahm, werden im ersten von insgesamt sechs und in einem Epilog genannten Schlusskapitel gezeigt. Die ethnokonfessionelle bzw. ethnoreligiöse Gemengelage wird dabei knapp skizziert. Im anschließenden recht kurzen Kapitel handelt die Verfasserin in groben Zügen das ab, was man als wesentliche Elemente des russischen Krim-Diskurses im Zarenreich bezeichnen kann. Dazu zählt der Bezug auf die Krim als antikes Taurien, welches dem Russländischen Reich ‚seinen‘ Anteil an dem von den europäischen Oberschichten der Zeit so geschätzten hellenischen Erbe sicherte. Erwähnt wird zudem das Bild eines unter russischer Herrschaft stehenden Morgenlandes, welches seit der Taurischen Reise Katharinas II. von 1787 einen zentralen Topos darstellte. Das dritte Kapitel verortet die Pläne eines Russischen Athos auf der Krim im Kontext übergeordneter, auch außenpolitischer Zielsetzungen. Dazu zählen etwa die Bedeutung der Krim für die sog. Orientalische Frage oder der Bevölkerungsaustausch zwischen Russland und dem Osmanischen Reich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Bekanntlich hatten bereits unmittelbar nach der Auflösung des Krim-Chanats Tausende von Muslimen Zuflucht im Osmanischen Reich gesucht. Sie folgten damit z. T. dem freilich in der islamischen Welt recht unterschiedlich ausgelegten Gebot, nicht im Herrschaftsbereich der sog. Ungläubigen zu leben, z. T. wichen sie aber auch konkreten, zumeist wirtschaftlichen Bedrückungen seitens der neuen Macht. Diese ließ nämlich von Anfang keinen Zweifel daran, dass die Halbinsel, dieses so schöne und auch strategisch so wichtige Kleinod im Schwarzen Meer, ohne die Tataren ‚besser‘, ‚wertvoller‘ oder zumindest ‚sicherer‘ wäre. Wellen von krimtatarischer Auswanderung sind bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts zu beobachten; einen absoluten Höhepunkt erreichten sie aber in den ersten Jahren nach dem Krimkrieg, also in dem Zeitraum, der auch für Kozelsky zentral ist. Die russische Administration förderte den Exodus der Krimtataren, die ihnen als eine illoyale, mit dem Osmanischen Reich oder anderen Gegnern Russlands kollaborierende Bevölkerungsgruppe galt; tatsächlich hatte es – wie später im Zweiten Weltkrieg während der deutschen Besatzung vereinzelte Überläufer gegeben; in beiden Fällen kann aber von einer Massenkollaboration nicht die Rede sein, verhielt sich die Mehrheit der Krimtataren doch der russischen bzw. sowjetischen Macht gegenüber loyal. Von einer Zwangsvertreibung in Analogie zu den seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zu beklagenden Erscheinungen der „ethnischen Säuberung“ kann aber zumindest in zarischer Zeit entschieden keine Rede sein. Tatsächlich verringerte sich aber der Anteil muslimischer Krim-Bewohner dramatisch, und die Halbinsel wurde mehr und mehr ein orthodox geprägter Raum. Im Zuge der Auswanderung des 19. Jahrhunderts sind muslimische Untertanen des Zaren wie die Krimtataren nämlich durch orthodoxe Bulgaren aus dem Herrschaftsbereich der Hohen Pforte ersetzt worden. Zudem riss der Zustrom russischer und ukrainischer Siedler nicht ab. Damit wird zumindest in diesem Abschnitt der Arbeit eine Kontextualisierung der Forschungsfrage in einen größeren Zusammenhang vorgenommen, der insgesamt in dieser Arbeit etwas zu kurz kommt; insbesondere wäre die Frage nach vergleichbaren religiösen Sinnstiftungen in anderen kolonialen Kontexten spannend gewesen.

Die Umsetzung und die praktischen Probleme bei der Errichtung eines Russischen Athos als Symbol der Rechtgläubigkeit und der Legitimität russischer Herrschaft auf der Krim werden im vierten Kapitel behandelt; konkret geht es um den Bau von Kirchen und die Einrichtung von Klöstern mit dem Hinweis auf deren Bedeutung in früheren, vorrussischen Zeiten. Dem Krimkrieg, der in vielerlei Hinsicht eine Zäsur in der russischen Geschichte markiert, ist das fünfte Kapitel gewidmet: Die tätige Unterstützung des Klerus für die „heilige russische Sache“ und die spätestens nun untrennbare religiös-nationale Bedeutung der Halbinsel für das orthodoxe Russland stehen dabei im Mittelpunkt. Die mentalen und realen Folgen des Krimkriegs für die Halbinsel und die Idee des Russischen Athos in den nächsten Jahrzehnten beschreibt das sechste Kapitel: die Beseitigung der umfassenden Zerstörungen kirchlicher Einrichtungen, die der Krieg verursacht hatte, den bereits von Mark Pinson in der 1970er Jahren als „demographic warfare“ bezeichneten Exodus eines großen Teils der muslimischen Bevölkerung (Mark Pinson: Demographic Warfare. Aspects of Ottoman and Russian Policy 18541866, Ph.D. Dissertation Harvard University 1970), der bereits oben angedeutet wurde, sowie die Rolle des Tourismus und der Massenmedien bei der imperiumsweiten Popularisierung des Bildes einer „heiligen Krim“.

Damit endet der historisch angelegte Teil der Arbeit. Ihm folgt ein in angelsächsischen Arbeiten in den letzten Jahren üblich gewordener Epilog anstelle einer zusammenfassenden, wertenden und analysierenden Schlussbetrachtung. Dies ist im vorliegenden Fall von Nachteil, denn anders als im ersten Teil der Arbeit, der sich durch einen nachvollziehbaren Aufbau auszeichnet, geht es dort doch recht unstrukturiert zu: Die siebzig Jahre sowjetischer Herrschaft werden mit einem schlanken Satz abgehandelt („After seventy years of official atheism in the Soviet Union, Orthodox Christians are reestablishing Crimea as a holy place of the Slavs“, S. 175). Es wäre durchaus erwähnenswert gewesen, dass die orthodoxe Kirche und ihre Vertreter auch auf der Krim den zeittypischen Bedrückungen ausgesetzt waren: Ende der 1920er Jahre beispielsweise agierte die militante Gottlosenbewegung (die sog. Bezbožniki) auch auf der Halbinsel; Priester wurden verfolgt und die religiöse Infrastruktur nahm großen Schaden, während zumindest bis 1928 Insignien des Islam noch einigermaßen verschont blieben; eine großflächige Verwüstung desjenigen krimtatarischen Kulturgutes, welches den Zweiten Weltkrieg mit der nationalsozialistischen Besatzung, dem Partisanenkampf und der Rückeroberung durch die Rote Armee überstanden hatte, erfolgte dann in der Nachkriegszeit auf Geheiß Stalins. Mit der gewaltsamen Aussiedlung der unter Generalverdacht der Kollaboration stehenden Krimtataren sollten auch die Spuren dieser Nationalität getilgt werden: Krimtatarische Ortsbezeichnungen wurden eliminiert und selbst der Chans-Palast von Bachčisaraj entging nur knapp der Zerstörung, angeblich wegen des bekannten Puškin-Poems „Der Tränenbrunnen“ (Bachčisarajskij fontan). Als bemerkenswert wäre überdies hervorzuheben gewesen, dass in sowjetischer Zeit die eifernde Suche nach frühchristlichen Artefakten zwar offiziell keine Rolle spielte, die Krim und insbesondere Chersones aber zu einer der größten archäologischen Ausgrabungsstätten der Union wurde. Die beträchtlichen Funde auch aus frühchristlicher Zeit wurden zum großen Teil nach Leningrad verbracht; zugleich wurde aber auch in Chersones ein Museum aufgebaut, so dass sich auch die zahlreichen Urlauber des „Allunions-Sanatoriums“ der Krim an den Überresten erfreuen durften. Und schließlich gelang 1935 die Freilegung eines der bedeutendsten Grabungsfunde überhaupt – der vermutlich aus dem 6. Jh. stammenden sog. Basilika 1935.

Der Epilog ist im Wesentlichen ein Parforce-Ritt durch die beiden Jahrzehnte nach der Auflösung der UdSSR. Behandelt werden dabei u. a. die Renaissance der Religionen auf dem gesamten (!) ehemaligen Territorium der Union und die extrem komplizierte kirchliche Situation in der Ukraine mit ihren allein drei konkurrierenden orthodoxen Kirchen. Die Konflikte auf der Krim zwischen den sich an Moskau orientierenden russisch sprechenden Bewohnern und den zumeist aus der usbekischen Verbannung heimkehrenden Krimtataren werden genauso kurz dargestellt wie der Widerstand der krimrussischen Bevölkerung gegen den vom bereits wieder abgewählten Sieger der Orangen Revolution, Viktor Juščenko, gewünschten Beitritt der Ukraine zur NATO. Dieser Essay ist für sich genommen anregend, jedoch wird erst auf den letzten Seiten des Epilogs die These von der Wiederaufnahme der bereits im 19. Jahrhundert entwickelten Argumentationsmuster für eine rechtgläubig-russische Krim durch die Ukrainische Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchat (UOK-MP) und ihre zeitweiligen Konflikte mit Kiev aufgegriffen. Somit kommt eine wichtige Frage zu kurz, nämlich die nach den Kontinuitäten religiös-verbrämter Legitimationen für politisch-territoriale Ambitionen, welche sich gerade am Beispiel konkurrierender nationaler Ansprüche (russischer, krimtatarischer und ukrainischer) auf die Halbinsel Krim anschaulich nachzeichnen ließe. So schließt die Autorin mit dem letztlich wohlfeilen Appell, den in den Jahren seit der Unabhängigkeit der Ukraine zuweilen zum Erliegen gekommenen zwischenreligiösen und zwischenkonfessionellen Dialog aufrechtzuerhalten.

Das Urteil zu dieser über weite Passagen überzeugend argumentierenden Arbeit fällt insgesamt zwiespältig aus. Unstrittig ist, wie bereits oben angeführt, die Plausibilität der Ausgangsthese, dass nämlich der Rekurs auf die rechtgläubige Krim ein wichtiges Element zur Legitimierung kolonialer Herrschaft Russlands über ein muslimisch geprägtes Territorium wurde. Kozelsky arbeitet zudem die immer wieder festzustellende Zurückhaltung weltlicher imperialer Akteure bei der Übernahme dieses Denkmusters heraus, etwa bei dem von 1823 bis 1855 amtierenden General-Gouverneur von Neurussland, Michail S. Voroncov. Dieser fühlte sich offenbar noch der von Katharina II. postulierten Maxime religiöser Toleranz auch gegenüber den Krimtataren verpflichtet. Er gebot mehr als einmal den Vorstößen orthodoxer Funktionsträger zur Erweiterung von Kirchenbesitz zu Lasten der Krimtataren Einhalt. Ohnehin sah sich dieser hohe Vertreter der zarischen Macht als Verteidiger aller loyalen Untertanen, und seien diese auch, wie die Krimtataren, muslimischen Glaubens. Wiederholt wurden er und andere Beamte von St. Petersburg in dieser Haltung bestärkt (dazu grundlegend A. L. H. Rhinelander: Prince Michael Vorontsov. Viceroy to the Tsar. London 1990). Zumindest bis in die Regierungszeit Alexanders II. hinein kann von einer vorbehaltlosen Förderung der Rechtgläubigkeit auf der Krim zu Lasten des religiösen Fremden nicht die Rede sein. Selbst danach fällt es schwer, die zarische Politik gegenüber den Angehörigen der ehemaligen Titularnation als dezidiert antitatarisch zu bezeichnen, auch wenn (u. a. religiöse) Homogenisierung erwünscht war. Gerade weil diese Brüche in Diskurs und Praxis und Unstimmigkeiten zwischen Staatsmacht und Vertretern der offiziellen Orthodoxie also von Kozelsky durchaus wahrgenommen werden, verwundert die von ihr angenommene Linearität der Debatten: Zu den Legitimationsstrategien russischer Krim-Herrschaft zählte nämlich beileibe nicht nur das Motiv der christlichen Krim, sondern dazu gehörten noch viele andere Topoi, welche nur selektiv (antikes Taurien, die Krim als russisches Asien) im zweiten Kapitel benannt werden. Beispielsweise findet die im 19. Jahrhundert verbreitete Vorstellung, die Krim sei ein Laboratorium der ‚guten‘ russischen kolonialen Praxis, wo man den westeuropäischen Mächten die eigene Kulturfähigkeit und damit die eigene Überlegenheit als gerechte und fortschrittliche Kolonialmacht demonstrieren könne, nicht einmal Erwähnung. Dies gilt im Wesentlichen auch für die von russischen Autoren mit dezidiert orthodoxem Hintergrund vorgenommenen Versuche, die Krim als uraltes slavisches Siedlungsgebiet zu stilisieren, um auf diesem Wege eine Kontinuität herzustellen und einen kolonialen Akt zu legitimieren Die hier nur anzudeutende Komplexität des russischen Krim-Diskurses als Legitimationsstrategie hat die Rezensentin 2007 übrigens in einer größeren Arbeit aufgezeigt, welche allerdings wie alle anderen deutschsprachigen Arbeiten zum Thema von Kozelsky ganz souverän ignoriert wurde. Sie befindet sich damit freilich in der immer größer werdenden Gesellschaft englischsprachiger Osteuropahistoriker, welche das Deutsche einfach nicht mehr beherrschen. Zu vermerken ist auch das Fehlen der russischen Interpretation des Krim-Mythos durch A. P. Ljusyj (2007).

Die Verengung auf das eine Motiv der allerdings vielgestaltigen Christianisierung bringt einige weitere Probleme mit sich: So ist beispielsweise der von der Verfasserin immer wieder in ihre Darstellung einbezogene Anteil der Archäologie bei der Durchführung des Projektes des Russischen Athos unstrittig, allerdings waren die Vertreter dieser Profession keinesfalls nur und ausschließlich an den alten christlichen Spuren interessiert. Einem gesamteuropäischen Trend folgend, war dieses recht junge Fach auch begierig, die noch älteren historischen Schichten der Krim-Geschichte (vorchristliche Antike) freizulegen, galt es zeittypisch doch als positiv, über ein ehemals klassisches Territorium zu gebieten. Die Verabsolutierung der These des „Christianizing Crimea“ führt noch zu weiteren Vereinfachungen, etwa in den Kapiteln über den Krimkrieg und die Zeit danach: In der Tat lässt sich bereits in den Jahren 1853 bis 1855 (und später sowieso) feststellen, dass vor allen Dingen orthodoxe Akteure den Krimkrieg als Religionskrieg definierten und die Krim als zentrales Schlachtfeld dieses „heiligen“ Kampfes zwischen der Ostkirche einerseits und den ‚verdorbenen‘ westlichen Zivilisationen andererseits in ihrem Bündnis mit dem Islam deuteten. Dass jedoch die Halbinsel und vor allen Dingen Sevastopol seit jener Zeit weitaus mehr gewesen ist, nämlich die hochemotionalisierte Verkörperung des Leidens und des Widerstandswillens des russischen Volks, bestehend aus Männern und Frauen, Ober- und Unterschichten, Kombattanten und Zivilisten, kommt gerade zu kurz. Gerade in diesem Kontext scheint eine Erweiterung des Erklärungsrepertoires zielführend, welche beispielsweise mit dem weiter gefassten Begriff der Sakralisierung (statt Christianisierung) der Krim hätte operieren können. Dadurch wäre die oft kaum auseinanderzuhaltende Trennung zwischen religiöser und nationaler Diktion nachvollziehbar geworden und in den größeren Zusammenhang der auch im übrigen Europa festzustellenden „Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation“ eingeordnet gewesen (vgl. hierzu beispielsweise den gleichnamigen Band von Martin Schulze Wessel (Hg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa. Stuttgart 2006. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropas 27). Gleichwohl ist „Christianizing Crimea“ ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der neuzeitlichen Krim, der unter Einbeziehung eben auch deutscher Forschungen noch überzeugender hätte sein können.

Kerstin S. Jobst, Wien

Zitierweise: Kerstin S. Jobst über: Mara Kozelsky: Christianizing Crimea. Shaping Sacred Space in the Russian Empire and Beyond. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010, 270 S., ISBN-13: 978-0-87580-412-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jobst_Kozelsky_Christianizing_Crimea.html (Datum des Seitenbesuchs)

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