Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 446-448
Verfasst von: Angelina Jedig
Trude Maurer: Diskriminierte Bürger und emanzipierte „Fremdstämmige“. Juden an deutschen und russischen Universitäten. Graz: Leykam, 2013. 117 S., 9 Abb. = Vorlesungen des Centrums für Jüdische Studien, 5. ISBN: 978-3-7011-0264-8.
Dass der Antisemitismus aus der Mitte, auch aus der Elite der Gesellschaft kommt und sich dann über die Straße bis an die Ränder verbreitert, gilt heute als gesichertes Wissen. Trude Maurers kleine, aber bemerkenswerte Schrift, ursprünglich wohl ein Vortrag, fragt, ob und inwiefern einer kleinen, zumeist von Ausgrenzung bedrohten Gruppe in den deutschen Ländern und im Russischen Reich die Teilhabe und Etablierung in der Institution Universität gelingt. Ein Blick etwa in die Liste der Nobelpreisträger genügt, um festzustellen, dass jüdische Gelehrte einen eminenten Platz in der Wissenschaftslandschaft einnehmen. Die Autorin beleuchtet die systemische, formale Integration und die soziale, also emotionale (Nicht-)Integration von jüdischen Studierenden und Lehrenden im Kontext von staatlichen und inneruniversitären Vorgaben sowie zwischenmenschlichen Ressentiments. Der Untersuchungsgegenstand – zwei Gruppen: Studenten und Professoren; zwei Länder: deutsche Länder und Russisches Reich – ist für den beschränkten Umfang der vorliegenden Publikation eine beträchtliche Herausforderung. Besonders der Blick auf Juden an russischen Universitäten stellt ein Desiderat dar, da Juden in der Sowjetunion nicht als separate Gruppe in den Fokus genommen wurden. Auch jüdische Autoren thematisieren in ihren Studien über russische Universitäten im weitesten Sinn diese Gruppe nicht (siehe Samuel D. Kassow: Students, Professors, and the State in Tsarist Russia. Berkeley [usw.] 1989; Rebecca Friedman: Masculinity, Autocracy, and the Russian University, 1804–1863. New York 2005). Der Terminus „Fremdstämmige“ (inorodcy) bezeichnet bis zum Ersten Weltkrieg alle Nichtrussen, wobei Juden als einziges europäisches Volk als inorodcy klassifiziert wurden (S. 42).
Maurer konstatiert für den deutschen Raum eine „staatsbürgerliche Gleichheit ohne volle akademische Gleichstellung“ (S. 11) und umgekehrt für den russischen eine „akademische Gleichberechtigung ohne Emanzipation“ (S. 41). Die Geschichte der Juden an deutschen Universitäten ist wechselhaft, inkonsistent und interpretatorisch nicht immer eindeutig fassbar. Zwar dürfen Juden seit 1678 an vereinzelten deutschen Universitäten studieren, nie aber alle Fächer; eine freie Berufswahl ist nahezu ausgeschlossen, als Abschluss war nur die Promotion möglich, die Immatrikulation konnte zu Privilegien (in der Niederlassungswahl) führen. Juden wurden in Corps aufgenommen, in die Burschenschaften nur in den ersten Jahren nach ihrer Gründung. Als Juden ab ca. 1880 die Aufnahme in beide Vereinigungen verweigert und ihnen die Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen wird, gründen jüdische Studenten eigene Studentenverbindungen, die entsprechend den vorhandenen Strömungen im deutschen Judentum ausdifferenziert sind: es gibt nationaljüdische und deutsch-vaterländische Vereinigungen (S. 17). Maurer betont, dass jüdische Studentenverbindungen nicht „allein als Reaktion auf diese antisemitische Ausgrenzung verstanden“ (S. 15) werden dürften, sondern dass sie auch „der Geselligkeit und der Identitätsbildung“ dienen, „nachdem die Generation ihrer Eltern es [das Judentum] zuvor jahrzehntelang in den privaten Raum zurückgedrängt hatte“ (S. 16). Die Kehrseite des Ausschlusses aus den regulären Verbindungen waren Nachteile im Laufe einer akademischen Karriere, wenn bspw. in Berufungsverfahren die Kommission oder informelle Netzwerke ihre alten Verbindungsbrüder zu befördern suchten. Maurer zitiert u.a. vertrauliche Korrespondenz von Mitgliedern von Berufungsverfahren und Ministerialbeamten; dort tauchen amorphe, handfest antijüdische Vorurteile auf, von „Atavismus“ ist die Rede, man konstatiert „exquisit jüdisches Äußeres“, „jüdische Denkart“ oder „zersetzenden jüdischen Intellekt“ (S. 32–33, 85–86). Andererseits war aber auch folgendes zu sehen: Nicht alle nicht-berufenen jüdischen Akademiker sind es in Folge von Diskriminierung geblieben (S. 35). Die Autorin zeigt – überraschenderweise? –, dass das Judentum für eine akademische Karriere hinderlich sein konnte, aber nicht sein musste. Obwohl bei Karriereambitionen ein Konversionsdruck bestand, war die Taufe kein Garantieschein. Ein klar konturiertes Bild der jüdischen Akademiker in Deutschland oder eine generelle strukturelle Diskriminierung kann Maurer nicht erkennen.
Für Russland sieht die Autorin eine „weitgehende soziale Anerkennung ohne rechtliche Gleichheit“ (S. 70), obwohl sie an anderer Stelle feststellt, dass „etwa 30 % der Befragten [= jüdische Studenten in Odessa] überhaupt keine nichtjüdischen Freunde [hatten]“ und „sich 35 % in nichtjüdischer Gesellschaft nicht wohl[fühlten]“ (S. 57). Der Text selber und die Geschichte der Juden in Russland lässt diese erste Schlussfolgerung auch nicht zu. 1835 gab es elf jüdische Studenten im Russischen Reich (S. 42–43), ab 1882 wurde ein Numerus clausus in Teilen, ab 1887 generell eingeführt (S. 48–49). Juden durften zwar alle akademischen Grade erwerben, aber da sie keine Niederlassungsfreiheit hatten, bis 1861 nur partiell zum Staatsdienst zugelassen waren und als Lehrende und Professoren an der Universität infolge von informeller Diskriminierung in der akademischen Lehre faktisch nicht aufzufinden waren, konnten sie ihre Bildungsprädikate selten in eine berufliche Karriere umsetzen. Ausnahme war die (Militär-)Arztlaufbahn (S. 46 ff.). Unerwähnt bleiben die studentischen Zirkel, kružki, die für den russischen Kontext größere Relevanz besaßen als Corps und Burschenschaften und von der Autokratie stets mit Argusaugen beobachtet wurden. Interessant wäre zu erfahren, ob jüdische Wissenschaftler aus dem In- und Ausland an den russischen Wissenschaftsakademien vertreten waren und ob unter den zahlreichen deutschen Wissenschaftlern an den russischen Universitäten auch jüdische gewesen sind (dazu finden sich keine Angaben in der ansonsten exzellenten Übersicht von Michael Schippan: Aufklärung in Russland im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 2012). Unklar und ohne Erklärung bleibt nach der Lektüre, wie Maurer zu der Einschätzung kommt, dass es eine „weitgehende Integration der Juden in die Gesamtstudentenschaft“ (S. 53) gegeben habe und dass „unter der Jugend des Zarenreichs […] die Diskriminierten Unterstützung“ fanden (S. 52). Entsprechend gewagt scheint mir die Konklusion: „Während die gleichberechtigten Bürger des Deutschen Reichs gesellschaftlich meist Außenseiter blieben, wurden die ‚Fremdstämmigen‘ in der Studentenschaft des Russischen Reichs Insider“ (S. 64). Auf den Seiten 70, 95–96 und 109–110 kann man es anders lesen. Russische Intellektuelle hielten es sogar für angebracht, Verteidigungen der Juden zu publizieren (vgl. Ščit. Literaturnyj sbornik pod red. L. Andreeva, M. Gor’kogo i F. Sologuba. Moskva 1915). Einige Aussagen Maurers sind sprachlich uneindeutig oder nicht ganz korrekt. Darf man etwa Heinrich von Treitschke einen „liberalen Historiker“ nennen (S. 7–8)?
Der Vergleich von deutschen und russischen Universitäten bietet sich aus Sicht der Autorin an aufgrund zahlreicher russischer Studierender an deutschen Universitäten und „weil die russischen Universitäten des 19. Jahrhunderts nach dem Vorbild der deutschen Reformuniversitäten des 17. und 18. errichtet wurden“ (S. 10). Aus Sicht der Rezensentin liegt das Erkenntnispotential weniger in den Gemeinsamkeiten als in der Möglichkeit der differenzierenden Gegenüberstellung. Groß sind die Unterschiede sowohl hinsichtlich der Länder, ihrer Universitäten als auch der untersuchten Gruppen: hier ein Flickenteppich von Fürstentümern im Prozess der Nationalisierung und des nation building, dort ein Vielvölkerimperium; hier wurden die ersten Universitäten im 14. Jahrhundert gegründet (Prag, Wien, Heidelberg, Köln), dort die erste 1755 (Moskau); die soziale und rechtliche Lage der Juden im Zarenreich war um ein Vielfaches prekärer als die der Juden in den deutschsprachigen Ländern; von hier kommen die wesentlichen Impulse für die bürgerliche Emanzipation und die Haskala, eine „kulturelle Revolution“ des Judentums (Shmu’el Feiner); in Osteuropa dagegen dominieren Chassidismus und die litauische Orthodoxie, die beide gegen das maskilische Prinzip Tora im derech eretz opponieren; im Kaiserreich leben 512.000 (1871) bzw. 615.000 (1912) Juden, die erste vollständige Volkszählung 1897 hingegen ergibt für Polen, die Ansiedlungsrajons und Restrussland 5.179.401 Juden. Dass Juden aus dem Zarenreich an deutschen (aber auch niederländischen, Schweizer, französischen und englischen) Universitäten studierten, ist weniger eine jüdische, als eine russische Besonderheit. Die „Ost-Juden“ lernten erst sehr spät russisch, das Deutsche war ihnen als Jiddisch-Muttersprachler näher als das Russische, womit sie für ein Studium im deutschsprachigen Raum prädestiniert waren.
Der russische Kontext hätte stärker beachtet werden können (mangelhaftes Schulwesen, grassierender Analphabetismus, stark eingeschränkter Zugang zu höheren Schulen für Juden, geringer Grad der Akademisierung der Gesellschaft, schwache Systematisierung der politisch-administrativen Zentralgewalt, der im Vergleich zu Deutschland spätere Anschluss der osteuropäischen Juden an weltliche Bildung u.a.m.). Weder finden historische Fakten wie die zahlreichen Judenpogrome (z.B. 1881, 1900, 1903, 1904, 1905) genügend Beachtung noch (pseudo-)intellektuelle Diskurse wie die späten vyroždenie- und frühen Häresievorwürfe (židovomudrstvujuščie, židovstvujuščie). Auch die ubiquitären antijüdischen Reflexe in der schönen Literatur, gerade auch bei den Klassikern, hätten zumindest erwähnt werden können, ebenso die Wortdoppelung žid – evrej (siehe u.a. Felix Philipp Ingold: Dostojewskij und das Judentum. Frankfurt am Main 1981). Selbst der hochgebildete Ivan Turgenev, der in St. Petersburg und Berlin studiert hatte, schrieb eine klischeegesättigte Erzählung mit dem Herabsetzungstitel Žid (erschienen 1847). Über den methodischen Verzicht auf Vorurteils- und Alteritätsforschung, Imagologie und Rassentheorien kann man angesichts des Umfangs hinwegsehen, doch hätte eine theoretische Fundierung für eine bessere Hinführung zum Thema gesorgt.
Die Sozialgeschichte der Juden in der Institution Universität ist v.a. für den deutschsprachigen Raum ein Scharnier in der Dialektik von Emanzipation, Haskala und Integrationswunsch auf der einen Seite und dem Assimilationsdruck und Traditionsverlust auf der anderen Seite, und man möchte mehr darüber erfahren. Im Rahmen der vorliegenden schmalen Publikation kann die Autorin dieses Desiderat nur, wenn auch durchaus auf Appetit anregende Weise, anreißen. Die umfangreichen Anmerkungen und die bisherigen Publikationen der Verfasserin zeugen von profundem Wissen zu diesem Thema. Insgesamt jedoch fügen sich die Einzelteile, so es denn überhaupt möglich wäre, nicht immer zu einem festen Gesamtbild zusammen.
Zitierweise: Angelina Jedig über: Trude Maurer: Diskriminierte Bürger und emanzipierte „Fremdstämmige“. Juden an deutschen und russischen Universitäten. Graz: Leykam, 2013. 117 S., 9 Abb. = Vorlesungen des Centrums für Jüdische Studien, 5. ISBN: 978-3-7011-0264-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jedig_Maurer_Diskriminierte_Buerger.html (Datum des Seitenbesuchs)
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