Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  629–630

Anton Holzer Die andere Front. Fotografie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Primus Verlag Darmstadt 2007. 368 S., 520 Abb., Ktn. ISBN: 978-3-534-21390-0.

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ – dieser Allgemeinplatz drängt sich ständig auf bei der Lektüre, oder besser der Betrachtung, des von Anton Holzer in der Österreichischen Nationalbibliothek ausgegra­benen Bildmaterials des k. u. k. Kriegspressequartiers. Über 33.000 Originalglasplatten mit Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg sind dort erhalten. Ein überaus reicher Fundus, aus dem das vorliegende Werk nur einen Bruchteil wiedergeben kann. Aber bereits dieses von Holzer umsichtig ausgewählte und subtil interpretierte Material lässt ahnen, welche visuellen Dimensionen der Erste Weltkrieg im Osten und Südosten Europas hatte, sei es in Form menschlichen Leids, materieller Zerstörung, technischen Fortschritts oder banalen Alltags. Allein diese Bilder zu betrachten, verschiebt die überkommene historiographische Perspektive auf diesen Krieg, welche thematisch noch immer stark geprägt ist durch politische, militärische und soziale Fragestellungen sowie durch den zum Mythos gewordenen Stellungskrieg im Westen.

Wer dieses Buch aufschlägt, sollte sich Zeit nehmen, zum Schauen, zum Nachdenken. Zum Nachdenken vor allem über die Art und Weise, wie wir geschichtliche Quellen wahrnehmen, zitieren und interpretieren. Denn diese sind zum ganz überwiegenden Teil noch immer schriftlicher Natur. Wenn Historiker Bilder benützen, dann zumeist nur als beiläufige Illustrationen historischer Sachverhalte, kaum aber als eigenständige Quellen. Dies liegt, nach Holzer, an der von vielen als bedrohlich empfundenen Mehrdeutigkeit visuellen Materials. Es gibt nämlich keine eindeutige Interpretation von Bildern und Fotografien. Gerade letztere vermitteln vielmehr einen „Überschuß an Bedeutung“ (S. 325), da sie immer auch nicht intendierte Informationen enthalten sowie auf spezielle Wahrnehmungsformen und Blickwinkel verweisen. Gerade darin jedoch besteht ihr Wert als Quelle: Fotografien erfassen den Facettenreichtum und den im doppelten Wortsinn spekulativen Charakter von Geschichte besser als geschriebene Texte. Sie sind auf jeden Fall enger mit den historischen Ereignissen verwickelt als viele Texte, da der Fotograf ja zwangsläufig vor Ort sein musste.

Das Plädoyer Holzers für eine engere Zusammenarbeit von Geschichte und Fotografiegeschichte wird durch den vorliegenden Band mehr als unterstützt. Allein die thematische Vielfalt der Fotografien wirft ein vollkommen neues Licht auf die Geschichte des Ersten Weltkrieges. Man mag vielleicht irgendwo einmal über einen „Gasschutzkasten für Brieftauben“ gelesen haben, aber ein derartiges Gerät zu sehen (S. 125) erweckt dann doch Assoziationen, die über eine historiographisch-nüchterne Diskussion von Kriegstechnik hinausgehen. Hier verbinden sich in der Fotografie zeitgenössische Technikfaszination mit dem Wunsch nach propagandistischer Verwertung einer ‚modernen‛ Errungenschaft. Zugleich jedoch hat das Bild etwas Absurdes, ja Surreales. Empfindungen und Empfindlichkeiten, die sonst gewöhnlich in der Kunst Ausdruck finden, sind somit oft fester Bestandteil bildlicher Quellen, ebenso wie Emotionen, denen sich einige Historiker in jüngster Zeit ja verstärkt zuwenden. Nicht aufzuzählen sind hier die vielen Ablichtungen von menschlichen Gefühlen – die Blicke in die Kamera, voller Bedeutung, Leere, Angst, Freude, Ironie und Niedergeschlagenheit. Oder der Blick gen Himmel des „russisch wolhynischen Juden“ (S. 197), flehentlich und zugleich abgeklärt, gedacht jedoch als Beitrag zur ethnographischen Erfassung eroberter Gebiete. Ähnlich wie die „Typen gefangener Russen“ (S. 174), deren menschliche Indivi­dualität den Klassifizierungsbestrebungen des Fotografen widersteht. Und schließ­lich sind da die Realitäten des massenhaften Sterbens, fotografisch dokumentiert in vielgestaltiger Form, und die nachfolgende, von der Propaganda betriebene „Inszenierung des einsamen Todes in Gestalt eines Soldatengrabes in offener Landschaft“ (S. 276). Die Fotografie stand hier am Anfang einer Erinnerungskultur, die für den Westen von Jay Winter und anderen bereits eingehend untersucht worden, für Ost- und Südosteuropa aber noch gänzlich unerforscht ist.

Holzers Buch empfiehlt sich für den professionellen Historiker ebenso wie für den interessierten Laien. Es verbindet in leicht zugänglicher Form historische Thematik mit methodisch innovativen Ideen zur Interpretation alter Fotografien, regt an zum Nachdenken über vergessene Aspekte des Ersten Weltkrieges und überrascht in seiner Aufmachung durch die Tristesse, aber auch die kantige Schärfe der schwarz-weißen Ästhetik. Kaum ein anderes Buch über den Ersten Weltkrieg im Osten dürfte einen vergleichbar starken Eindruck hinterlassen.

Hubertus F. Jahn, Cambridge

Zitierweise: Hubertus F. Jahn über: Anton Holzer Die andere Front. Fotographie und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Primus Verlag Darmstadt 2007. ISBN: 978-3-534-21390-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 629–630: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Jahn_Holzer_Fotografie_und_Propaganda.html (Datum des Seitenbesuchs)