Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 2, S. 316-318
Verfasst von: Jens Hoppe
Sebastian Lehmann / Robert Bohn / Uwe Danker (Hrsg.): Reichskommissariat Ostland. Tatort und Erinnerungsobjekt. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2012. 371 S., Abb., Ktn., Graph., Tab. = Zeitalter der Weltkriege, 8. ISBN: 978-3-506-77188-9.
Bei dem zu besprechenden Sammelband handelt es sich um ein Werk des Instituts für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte der Universität Flensburg (IZRG) und des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Er geht zurück auf eine Tagung vom Mai 2009 zum Reichskommissariat Ostland (RKO), an der auch das Deutsche Historische Institut Warschau beteiligt war, und enthält die zum Teil wesentlich erweiterten Vorträge. Die Tagung hatte sich zum Ziel gesetzt, neue Forschungen zur Geschichte wie Nachgeschichte des deutsch besetzten Baltikums zu präsentieren und bestehende Forschungsdesiderata aufzuzeigen (S. 28). Der Untertitel des Sammelbandes macht deutlich, dass es dabei um historische Ereignisse und deren Nachleben geht.
Sebastian Lehmann vom IZRG erläutert in seiner Einleitung, dass sich das Flensburger Institut mit dem RKO intensiv beschäftigt, weil zahlreiche Schleswig-Holsteiner unter dem deutschen Besatzungspersonal im Baltikum und in Weißrussland aufzufinden sind, und zwar vom Reichskommissar Hinrich Lohse, der die Leserin und den Leser bereits auf dem Titelbild in betonter „Macherpose“ empfängt, bis hinunter zu lokalen Verwaltungsstellen. Lehmann stellt alle Beiträge kurz vor, ohne eine Synthese der gesammelten Beiträge zu schaffen. Dabei unterlaufen ihm kleinere Fehler, etwa in der Reihenfolge der Vorträge oder bei deren inhaltlichen Gewichtungen.
Wolfgang Benz liefert mit seiner Darstellung der Shoah im Baltikum gleichsam eine zweite Einleitung, diesmal jedoch nicht referenten-, sondern forschungsorientiert. Er schildert die verschiedenen Mordwellen und konzentriert sich auf die Besatzer wie auf die einheimische Bevölkerung in ihrem Verhältnis zu den Besatzern bei der Ermordung der Juden. Und nun folgen 16 Beiträge deutscher wie internationaler Forscher, darunter mit Anastasia Antipova nur einer Wissenschaftlerin! Da es weder sinnvoll noch möglich ist, alle Aufsätze des Sammelbandes extensiv vorzustellen, werden im Folgenden Generalia thematisiert und einzelne Aufsätze etwas näher beleuchtet.
Der erste Block mit neun Beiträgen beschäftigt sich mit den vergangenen Ereignissen und Strukturen im RKO. Hierzu gehören Aufsätze zur deutschen Herrschaftsorganisation – so von Ernst Piper zum Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, von Matthew Kott zur Waffen-SS und Armin Nolzen zur Landesleitung Ostland der NSDAP. Daneben wird die Verfolgung von Juden und anderen Bevölkerungsgruppen thematisiert, und zwar von Andrej Angrick und Martin Dean (letzterer hinsichtlich der Gettos im Generalkommissariat Weißruthenien). Einzelne Politikfelder behandeln Malte Gasche mit der Prähistorie und Anastasia Antipova mit der Sprachenpolitik im GK Weißruthenien. Zudem beschäftigen sich Tilman Plath mit der vielschichtigen ethnischen Situation im lettischen Latgale und Sven Jüngerkes mit Konflikten innerhalb der deutschen Besatzungsverwaltung unter dem Aspekt eines lernfähigen Verwaltungssystems. Besonders gelungen sind die Aufsätze von Tilman Plath, der es schafft, die mitunter ähnlichen Ziele der lettischen und deutschen Politik gegenüber der autochthonen slawischen Bevölkerung aufzuzeigen, sowie Anastasia Antipovas Schilderung der Sprachenpolitik, die nicht nur eine für den Laien mitunter erstaunliche Flexibilität offenbart, sondern auch das nationale Bewusstsein der Weißrussen auf der Basis eines ideologischen Konzepts deutscher Prägung förderte. Matthew Kott wiederum zeigt eindringlich den ideologischen Hintergrund der Rekrutierungen für die Waffen-SS im RKO. Leider krankt dieser Text an einer nicht immer gelungenen Übersetzung. Armin Nolzen räumt mit der Mär auf, dass die deutsche Besatzungsverwaltung eine Ansammlung inkompetenter NSDAP-Funktionäre gewesen sei. Vielmehr handelte es sich durchaus um eine deutsche Normalverwaltung (S. 169).
Den zweiten Block bilden sieben Beiträge, die sich der Nachgeschichte widmen. Hierbei wird die juristische Aufarbeitung durch Uwe Danker hinsichtlich Hinrich Lohses, durch Mats Deland für Schweden und durch Robert Bohn für die Bundesrepublik Deutschland in den Blick genommen. Jörg Hackmann und Klaus Bästlein widmen sich der Historiografie des RKO und der Shoah, bevor abschließend Joachim Tauber (Litauen) und Olaf Mertelsmann (Estland) die Vergangenheitsdiskurse einzelner Länder vorstellen. Jörg Hackmann gelingt es, die Prägung des geschichtswissenschaftlichen Blicks auf das RKO durch frühe autobiografische Berichte maßgeblicher beteiligter Deutscher über die Besatzungspolitik aufzuzeigen, die erst in den 1990er Jahren wirklich durchbrochen wurde. Joachim Tauber und Olaf Mertelsmann können Leserinnen und Lesern, die mit den Vergangenheitsdiskursen in den baltischen Staaten nicht vertraut sind, die Situation in Litauen und Estland erläutern und dabei die sich berührenden und mitunter kreuzenden Schichten der baltischen Auseinandersetzung mit der deutschen und sowjetischen Besatzungszeit offenlegen. Joachim Tauber beschreibt anschaulich die unterschiedlichen Prägungen dieser Auseinandersetzung, je nachdem, ob sie durch Exilanten erfolgte, in der sowjetischen Zeit geschah oder nach der wiedergewonnenen Unabhängigkeit Litauens. Olaf Mertelsmann wiederum veranschaulicht, warum in der estnischen Bevölkerung die deutsche Besetzung in der Regel als das kleinere Übel gegenüber der sowjetischen angesehen wird.
Wie bei jedem Sammelband zeigen sich erhebliche qualitative Unterschiede zwischen den einzelnen Aufsätzen. Überraschend ist etwa, dass Wolfgang Benz bei seiner Betrachtung der Shoah jüdische Quellen beinahe ignoriert und jüdische Reaktionen wie Handlungsweisen randständig präsentiert, obgleich die Quellenlage für das Baltikum leicht etwas anderes ermöglicht und die gegenwärtige Forschung Juden als Subjekte ihrer Geschichte ernst nimmt, womit eine andere Betrachtungsweise nahe gelegen hätte. Anders stellen sich die Probleme bei Martin Dean dar, der die Bildung und Liquidierung der Gettos im GK Weißruthenien schildert, aber nur wenige Angaben zur Lebenswirklichkeit in denselben präsentieren kann. Hier liegen schlicht keine vergleichbar umfangreichen jüdischen Quellen wie beispielsweise für Litauen vor. Als Letztes sei noch auf Klaus Bästleins Beschäftigung mit der Historiografie der Shoah am Beispiel des RKO eingegangen. Sein Blick auf die zahlreichen Versäumnisse der deutschen Geschichtswissenschaft bei der Erforschung der Ermordung der Juden im Baltikum und in Weißrussland erinnert in Duktus und Impetus an die der 1980er-Jahre und ihre „Skandal“-Orientierung. Immerhin bietet er eine sehr gute Literaturübersicht zu diesem Themenfeld, doch kommt es zu zahlreichen Doppelungen mit Aussagen von Wolfgang Benz und Jörg Hackmann. An dieser Stelle wäre eine ‚eingreifendere‘ Herausgeberschaft vonnöten gewesen.
Überhaupt stellt sich die Frage der Gliederung des Sammelbandes: Für eine nicht spezialisierte Leserschaft wäre die historiografische Auseinandersetzung mit der Shoah auf dem Gebiet des RKO am Anfang sehr hilfreich gewesen. Denn diese ermöglicht klarer zu erkennen, vor welchem Forschungshintergrund die einzelnen Autoren arbeiten, und setzt einen notwendigen Rahmen, der beim jetzigen Zuschnitt erst zu spät in Erscheinung tritt. Statt mit dem „Gewesenen“, sollte mit dem „geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzen danach“ begonnen werden, zu dem auch die juristische/gerichtliche Beschäftigung mit Besatzungsverbrechen gehört.
So verdienstvoll die dargebotene Auseinandersetzung mit der deutschen Besatzungszeit in Litauen und Estland ist, so wichtig wäre Gleiches für Lettland und Weißrussland gewesen, insbesondere wenn es auf demselben hohen Niveau geschehen wäre. Selbstverständlich kann von einem Tagungsband keine enzyklopädische Vollständigkeit erwartet werden, doch erheischt eine Auseinandersetzung mit dem RKO die Darstellung der historiografischen und gesellschaftlichen Hintergründe in allen Regionen.
Zahlreiche Aufsätze bieten Abbildungen als illustrative Beigabe unter Benennung der Herkunft der Fotografien. Was meist fehlt, ist jedoch eine Auseinandersetzung mit den Fotos als Quelle. Von wem stammt die Aufnahme? Wann wurde sie gemacht, wo und zu welchem Zweck? Wo wurde sie zuerst veröffentlicht und in welchem Zusammenhang? Beispielsweise findet sich bei Malte Gasche eine Aufnahme von Prof. Dr. Carl Engel, der unter dem Foto als „Organisator der Vor- und Frühgeschichtsforschung im Reichskommissariat Ostland“ bezeichnet wird. Wir erfahren, dass es sich um einen Bildausschnitt handelt und das Herder-Institut Marburg Herkunftsort ist. Doch in welchem Jahr zeigt es Engel, auf welcher Ausgrabung ist er dort, mit wem? Wer war der Fotograf, für wen wurde das Bild angefertigt und wo wurde es erstmals publiziert? Diese Angaben böten Hinweise auf die Arbeit des Sonderstabs Vor- und Frühgeschichte des Einsatzstabes Reichsleiter Rosenberg (ERR) auf dem Gebiet der besetzten Sowjetunion. Aus erhaltenen Akten ist immerhin bekannt, dass Engel im November 1941 bei der Arbeitsgruppe (AG) Estland des ERR war. Im September 1942 findet er sich, als Mitarbeiter des Sonderstabes Wissenschaft geführt, bei der AG Weißruthenien und in Smolensk. Im Oktober 1942 ist er, nunmehr als Mitarbeiter des Sonderstabes Archäologie gelistet, wieder bei der AG Weißruthenien.
Hilfreich sind die beigegebene Karte des RKO mit Stand 1. Januar 1944 (S. 33), die abgebildete Verwaltungsgliederung im Zeitraum 1941/42 (S. 34) und das Personenregister. Leider fehlt – wie so oft – ein Sachregister. Insgesamt ist der Tagungsband trotz aller Kritik ein gelungenes Werk, das jeder und jedem über das RKO Forschenden ans Herz gelegt sei. Es werden für den Einstieg ein guter Überblick über die Literaturlage und die Möglichkeit für die historiografische Einordnung der eigenen Arbeit, ferner interessante Einblicke in manche Forschungsfelder sowie erste Eindrücke von den bestehenden Desiderata vermittelt.
Zitierweise: Jens Hoppe über: Sebastian Lehmann / Robert Bohn / Uwe Danker (Hrsg.): Reichskommissariat Ostland. Tatort und Erinnerungsobjekt. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2012. 371 S., Abb., Ktn., Graph., Tab. = Zeitalter der Weltkriege, 8. ISBN: 978-3-506-77188-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hoppe_Lehmann_Reichskommissariat_Ostland.html (Datum des Seitenbesuchs)
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