Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 62 (2014), 3, S. 448‒449
Verfasst von: Jens Hoppe
Freia Anders / Katrin Stoll / Karsten Wilke (Hg.): Der Judenrat von Białystok. Dokumente aus dem Archiv des Białystoker Ghettos 1941–1943. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2010. 527 S., 1 Kte. ISBN: 978-3-506-76850-6.
Inhaltsverzeichnis:
Ein Quellenband mit Dokumenten aus einem Getto im besetzten Polen verspricht tiefe Einblicke in die Zwangslage der Mitarbeiter eines von deutschen Besatzungsorganen eingesetzten jüdischen Gremiums. Es lässt aber auch eine Sicht der jüdischen ‚Macher‘ auf Leben und Probleme im Getto erwarten. Daher ist ein solcher Band für alle, die sich mit dem Wie des Daseins der Juden im deutsch besetzten Osteuropa beschäftigen, von großem Interesse. Tatsächlich bietet der von Freia Anders, Katrin Stolle und Karsten Wilke herausgegebene Band nicht nur 52 Protokolle von Sitzungen und Versammlungen des Judenrates zwischen dem 2. August 1941 und dem 11. November 1942 sowie 433 Bekanntmachungen verschiedener Art vom 8. Juli 1941 bis zum 1. April 1943, sondern überraschenderweise auch Aufsätze eines Bielefelder Workshops des Jahres 2007 zu „Quellen der Judenräte im besetzten Polen“. Die beiden Teile stehen relativ unverbunden nebeneinander und werden daher getrennt voneinander betrachtet.
Die Protokolle und Bekanntmachungen wurden von dem Berner Theologen Hans-Peter Stähli übersetzt, der bereits im Rahmen des 1966/67 durchgeführten Bielefelder Prozesses gegen den ehemaligen Leiter der Dienststelle „Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD für den Bezirk Bialystok“ Dr. Wilhelm Altenloh als Übersetzer in Erscheinung getreten war. Er hatte damals die hebräischen Übersetzungen der jiddischen Dokumente auf der Grundlage des 1962 von Yad Vashem publizierten und von Nachman Blumenthal herausgegebenen Bandes „Darko shel Yudenrat: Te’udot miggeto Bialistoq“ angefertigt. Nunmehr hat er die jiddischen Originaltexte übersetzt. Diese sind nur erhalten geblieben, weil sie im Frühjahr 1943 außerhalb des Gettobereichs vergraben worden waren, um von den Verbrechen der deutschen Besatzer zu zeugen. Doch was bieten die Protokolle und Meldungen? An ihnen lassen sich die Sichtweisen der im Judenrat maßgeblichen Personen, allen voran des Ingenieurs Efraim Barasz, auf die Situation in Białystok nachvollziehen. Hierbei wird Einiges schnell deutlich:
1.Bereits früh bestand das vorrangige Ziel der Judenrates in der Sicherung des Überlebens der Juden: „Wir müssen auf alles verzichten, wenn wir nur das Leben retten.“ (S. 72, Jakow Lifszic auf einer Versammlung am 2. November 1941.)
2.Darüber hinaus war dem Judenrat bewusst, dass er in einer Extremsituation handelt: „Eine solche Zeit hat es doch in der Geschichte noch nicht gegeben.“ (S. 82, Rabbiner Dr. Gedali Rozenman auf der Sitzung am 29. November 1941.)
3.Der Judenrat hat zudem durchschaut, dass das Wohl und Wehe der Juden nicht von ihrem Tun oder Wert abhängt, sondern von der „allgemeinen Politik“ (Efraim Barasz auf der Sitzung am 22. März 1942).
Viele weitere Erkenntnisse können aus den Protokollen gewonnen werden, etwa über das Wissen vom Schicksal der Juden in anderen Gettos. Die Bekanntmachungen wiederum erlauben einen Blick auf den Alltag der Gettoinsassen. Sie umfassen interne Bekanntmachungen genauso wie deutsche Anordnungen. Dabei tauchen ungewöhnliche Punkte auf: So dürften die Wenigsten erwarten, dass sich der Judenrat mit dem Thema „Kühe im Getto“ beschäftigt hat; schließlich haben wir alle ein Bild vom Gettoelend im Kopf, dass enge Häuserschluchten, aber keinen Baum und gewiss keine landwirtschaftlichen Nutztiere beinhaltet. Tatsächlich handeln jedoch die Bekanntmachungen 31, 59, 67, 137, 156, 191, 310, 345 und 387 (sowie das Protokoll 50) von Kühen.
Der zweite Teil des Buches ist wie ein üblicher Tagungsband aufgebaut: Nach einer Einführung durch die Herausgeber folgen in drei Blöcken Beiträge des Workshops zur Rezeption der Judenräte (Dan Michman, Karol Sauerland, Karsten Wilke), zu Erkenntnispotenzialen der Dokumente (Sara Bender, Freia Anders, Joanna Furła-Buczek, Katrin Stoll, Hans-Wilhelm Eckhardt zusammen mit Matthias Holzberg) und zum Erkenntniswert jüdischer Quellen (Dan Michman, Monika Tokarzewska, Andreas Ruppert, Monika Polit). Einige Aufsätze ermöglichen eine bessere Einordnung der abgedruckten Dokumente. Sehr hilfreich sind insbesondere die Beiträge von Sara Bender, die 10 von 13 Abteilungen des Judenrates vorstellt, und von Joanna Furła-Buczek, die sich mit der Sprache der Bekanntmachungen beschäftigt. Unser Denken fordert der zweite Aufsatz von Dan Michman über das Getto-Phänomen während der Shoah heraus, denn er lehnt die verbreitete Sichtweise ab, dass Gettos ein Schritt auf dem Weg zur so genannten Endlösung gewesen seien (S. 468). Michman erklärt deren Einrichtung vor allem als Ergebnis einer Internalisierung antisemitischer Feindbilder durch niedere Ränge des NS-Regimes (S. 467).
Bereits Andrea Löw und Lars Jockheck haben richtigerweise darauf hingewiesen, dass die beiden Teile besser eigenständig veröffentlicht worden wären. Darüber hinaus fehlt dem Tagungsteil nicht nur ein Personen- und Sachregister, was ein echtes Ärgernis darstellt, sondern auch die Auseinandersetzung mit Judenratsdokumenten aus anderen Städten – etwa aus Wilna/Vilnius.
Aber auch der erste Teil ist nicht unproblematisch. Warum wurde 1962 eine zweisprachige Veröffentlichung angeboten und 2010 nicht? Jede Übersetzung stellt einen Eingriff des Übersetzers dar. So weisen einige Autoren des zweiten Teils in ihren Beiträgen auf diese Problematik hin und bieten in Fußnoten Originalwortlaute an. Selbstverständlich können nicht viele Jiddisch, dennoch ermöglicht allein der Vergleich mit dem Original einer Leserin oder einem Leser zu erkennen, wo und inwieweit der Übersetzer in den Text eingegriffen hat. Zudem steht nicht allen Interessierten die Ausgabe von Yad Vashem von 1962 zur Verfügung. Hier wurde eine einmalige Chance vertan. Trotz alledem gilt, dass der Abdruck der Protokolle und Bekanntmachungen für interessierte Laien hilfreich ist und Wissenschaftlern gute Dienste leisten kann. Doch bleiben letztere auch weiterhin auf die Heranziehung des Bandes von Nachman Blumenthal angewiesen.
Zitierweise: Jens Hoppe über: Freia Anders / Katrin Stoll / Karsten Wilke (Hg.): Der Judenrat von Białystok. Dokumente aus dem Archiv des Białystoker Ghettos 1941–1943. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2010. 527 S., 1 Kte. ISBN: 978-3-506-76850-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hoppe_Anders_Der_Judenrat_von_Bialystok.html (Datum des Seitenbesuchs)
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