Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 4, S. 597–598
Felix Schnell Ordnungshüter auf Abwegen? Herrschaft und illegitime polizeiliche Gewalt in Moskau 1905–1914. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2006. XX, 383 S. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 67. ISBN: 978-3-447-05411-9.
Der anonyme Moskauer Autor, der im 1906 von Josef Melnik herausgegebenen Sammelwerk „Russen über Russland“ den Beitrag zur „Polizei“ verfasste, zeichnet gerade wegen seiner Sympathie für die revolutionäre Bewegung ein beeindruckendes Bild von der russischen Polizei. „Sie ist im Besitz der neuesten Kommunikationsmittel der Eisenbahnen, Telegraphen und Telephone, die es ihr ermöglichen, jede neue revolutionäre Bewegung sofort zu ermitteln und die zu ihrer Unterdrückung notwendigen Kräfte am betreffenden Punkte zu konzentrieren. Eine gewaltige Heeresmacht steht jederzeit bereit da, um an dem Ort zu erscheinen, wo das Volk Miene macht, jenes Mindestmaß von Freiheit aus eigener Kraft zu erobern, nach dem es Verlangen trägt“.
Die Forschung zeichnet demgegenüber ein anderes Bild von der Polizei im Zarenreich: Völlig überfordert sei sie gewesen, weil sie finanziell und personell schlecht ausgestattet war. Aufgrund ihres schlechten Rufes in der Bevölkerung, habe es ihr zudem an Autorität gemangelt, Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten und die Obrigkeit im positiven Sinne zu repräsentieren. Dilettantentum und moralische Verkommenheit auf der einen Seite, repressive Präsenz und Allmacht auf der anderen prägten das Bild der Polizei im späten Zarenreich. Während dabei die Geheimpolizei, auch aufgrund ihrer Bedeutung für die Entwicklung der revolutionären Bewegung, in den letzten Jahren gut erforscht wurde, blieb die Rolle der allgemeinen Polizei weitgehend unberücksichtigt. Die Arbeit von Felix Schnell ändert das zumindest für Moskau in den Jahren 1905 bis 1917.
Entlang den Linien einer dissertationstypisch kleinteiligen, aber übersichtlich strukturierten Gliederung hat Schnell den Stoff in sechs inhaltliche Kapitel aufgeteilt. Zunächst untersucht er die rechts- und institutionengeschichtlichen Voraussetzungen der Tätigkeit der Polizei in Moskau. Im zweiten Teil widmet er sich den lokalhistorischen Bedingungen seines Fallbeispiels Moskau, seiner Bevölkerung, den sozialtopographischen Besonderheiten und den Gegebenheiten des Moskauer Polizeiapparates. Dabei werden der militärische Charakter der Polizei sowie die Rolle der polizeilichen Helfershelfer, der Nachtwächter und Hausbesorger, thematisiert. Der dritte Teil ist eine klassische sozialhistorische Untersuchung der Arbeits- und Lebensumstände der Moskauer Polizisten: Der ländliche Hintergrund der unteren Polizeiränge spielte hier als Voraussetzung für Korruption und Vorteilsnahme ebenso eine Rolle wie Entlohnung und Lebensstandard, niedriger gesellschaftlicher Status und Defizite in der sozialen Absicherung. Im vierten Teil geht es um die Ereignisse im Dezember 1905. Der Moskauer Aufstand führte zu einer weiteren Erosion der Disziplin innerhalb der Polizei, die ohnehin nicht besonders stark ausgeprägt war. Aufgrund der anschwellenden revolutionären Bewegung verminderte sich die Präsenz der Polizei, die ihre Bemühungen um den Erhalt der öffentlichen Ordnung zum Teil einstellte. In dieser Situation schienen „Männer der Tat“ (S. 161) wie der Moskauer Stadtkommandant Generalmajor A. A. Rejnbot gebraucht zu werden, die das Recht in ihre eigenen Hände nahmen. Die Krise der öffentlichen Ordnung wurde zur Grundlage für den Moskauer Polizeiskandal, der als Rejnbotovščina bekannt wurde und im ganzen Reich Schlagzeilen machte. Dieser Skandal war nicht der einzige, der die russländische Polizei erschütterte, aber er war derjenige, an dem die Obrigkeit für die Öffentlichkeit ein Exempel statuieren wollte. Der fünfte Teil der Arbeit ist dieser rechtlichen Aufarbeitung sowie der öffentlichen Skandalisierung der Rejnbotovščina gewidmet. Der sechste Teil befasst sich schließlich mit der polizeilichen Praxis nach dem Skandal und den Möglichkeiten und Grenzen disziplinarischer Kontrolle. Dabei wird deutlich, dass illegitime Gewalt eine Begleiterscheinung des Polizeialltags blieb und dass sie als Voraussetzung für das Funktionieren des Apparates billigend in Kauf genommen werden musste. Gewalt blieb dabei ein Kommunikationsmedium zwischen der Polizei als Vertretung der Obrigkeit und den Untertanen.
Kurzzusammenfassungen der einzelnen Kapitel, Register und ein ausführlicher Anhang machen das Buch sehr gut für Forschung und Lehre benutzbar. Interessant ist außerdem die Offenheit, mit der der Autor über die methodischen Voraussetzungen seiner Forschungen reflektiert. Das Ergebnis ist überzeugend. Zu einer Fülle quantitativer Daten kommen kulturgeschichtlich argumentierende Analysen, welche z.B. die Wahrnehmungsweisen polizeilicher Praxis oder die Rolle der Öffentlichkeit in den Vordergrund stellen. Die Unfähigkeit des zarischen Systems, illegitime polizeiliche Gewalt einzudämmen, führt der Autor auf eine Vielzahl von Ursachen zurück. Da wäre neben den revolutionären Ereignissen vor allem die ökonomische Entwicklung zu nennen, welche die unterbezahlten Polizeiränge besonderes unter Druck setzte. Disziplinierungsmaßnahmen fanden zudem nur im symbolischen Sinne mit Hilfe demonstrativer Gerichtsprozesse und zur Befriedigung des Gerechtigkeitsempfindens einer zunehmend einflussreichen Presseöffentlichkeit statt. Die Verschärfung der Situation im frühen 20. Jahrhundert führt Schnell auf die „Widersprüche der zarischen Modernisierung“ (S. 322) zurück. Seine facettenreiche Darstellung zeigt tatsächlich, wie wenig die Modernisierung der russländischen Gesellschaft dazu beitrug, die Polizei so effizient zu machen, wie der oben zitierte anonyme Moskauer Autor im Jahre 1906 sie beschrieb. Die Modernisierung erzeugte vielmehr ihre eigenen Anachronismen – die Geschichte der Moskauer Polizei in dem Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg ist dafür ein gutes Beispiel.
Anke Hilbrenner, Bonn
Zitierweise: Anke Hilbrenner über: Felix Schnell Ordnungshüter auf Abwegen? Herrschaft und illegitime polizeiliche Gewalt in Moskau 1905–1914. Harrassowitz Verlag Wiesbaden 2006. XX. = Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 67. ISBN: 978-3-447-05411-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 597–598: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hilbrenner_Schnell_Ordnungshueter.html (Datum des Seitenbesuchs)