Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  599–600

Rainer Lindner Unternehmer und Stadt in der Ukraine, 1860–1914. Industrialisierung und soziale Kommunikation im südlichen Zarenreich. UVK Verlagsgesellschaft Konstanz 2006. 555 S., 37 Tab., 45 Abb. = Historische Kulturwissenschaft, 10. ISBN: 978-3-89669-609-0.

Die historische Unternehmer- und Unternehmensforschung hat für das östliche Europa nach 1991 neue Relevanz erhalten. Doch überwog in der deutschsprachigen Forschung die Aufsatz- bzw. Sammelbandform. Die vorliegende Monographie von Rainer Lindner über Unternehmer und Stadt in der Ukraine vor dem Ersten Weltkrieg hat somit Pioniercharakter, sowohl für das Zarenreich als auch für die historische Ukraineforschung. Sie skizziert in einem ersten Schritt die Stadtlandschaft und Industrialisierung „im südlichen Zarenreich“, kennzeichnet dann die Unternehmer in rechtlicher, sozialer und ethnischer Hinsicht und lotet in den folgenden Kapiteln die Handlungsräume der Unternehmer in Städten und professionellen Verbänden aus, bevor ein Endkapitel Industrieausstellungen als Kommunikationsräume untersucht.

Lindner nimmt kulturgeschichtliche Perspek­tiven auf und richtet seine Aufmerksamkeit besonders auf kommunikative Strukturen und symbolisches Handeln, um auf diese Weise den Statuswandel der Unternehmer im ausgehenden Zarenstaat erfassen zu können. Er integriert seinen Gegenstand gleichzeitig in die neuere historische Stadt- und Bürgertumsforschung und setzt dabei einige wichtige eigene Akzente. Die Städte Kiev, Žitomir, Char’kov, Ekaterinoslav und Juzovka bilden dabei sozusagen die Säulen oder das Gerüst des Buches, um zu allgemeineren Aussagen über das Unternehmertum in den ukrainischen Provinzen zu gelangen. Leider gerät zumal Kiev im Laufe der Studie immer mehr in den Hintergrund, während gleichzeitig die Entwicklung in anderen Städten wie etwa in Odessa stärker berücksichtigt wird.

Wichtig für die weitere Forschung dürfte die vorgeschlagene Typologie der Städte (historische Städte, imperiale Stadtgründungen, Industriedörfer) sein, die zur Systematisierung der Forschung beiträgt und in den verschiedenen Kapiteln (und besonders in der Zusammenfassung) immer wieder zur Interpretation herangezogen wird. Gut sind die biographischen Skizzen über die Unternehmer Ivan und Pavel Chari­tonenko, Aleksander Pol’, Lazar’ und Lev Brod­skij sowie John Hughes, für die Detailarbeit in Archiven und Bibliotheken nötig gewesen ist (vielleicht mit Ausnahme des bereits bekannteren John Hughes). Dadurch erhält das Unternehmertum in den genannten Städten Gesichter, die wir bis jetzt fast nur für Moskau, St. Petersburg, Riga und Odessa haben.

Überzeugend ist der Hinweis Lindners, dass Engagement in professionellen Verbänden wie dem „Verband der Bergbauunternehmer des Südlichen Russlands“ für Unternehmer wichtiger war als Engagement in der lokalen Gesellschaft. Es stimmt, dass die unternehmerische Selbstorganisation (in städtischen Organen wie in professionellen Verbänden) auf staatliche Prärogativen traf („starker Staat in lokaler Gesellschaft“) und hier ein Spezifikum des Zarenstaates lag. Doch mindert das nicht die Bedeutung unternehmerischer Initiativkraft. Lindner zeigt auch, dass professionelle Verbände nach 1905 zur Interessendurchsetzung wichtiger als politische Parteien waren. Die Zahlen, mit denen Lindner das unternehmerische Engagement in den Städten dokumentiert (Wohltätigkeit, Infrastrukturentwicklung u. ä.), beeindrucken zwar. Doch sind absolute Zahlen von beschränkter Aussagekraft und schwierig einzuordnen. Die Unternehmer dominierten anscheinend besonders die Selbstverwaltungsorgane der Industriestädte. Das Engagement reichte aber nicht aus, um für die städtische Bevölkerungsmehrheit eine positive Erfahrung urbanen Lebens zu prägen. Der Gedanke der Sozialpartnerschaft blieb den Unternehmern fremd (S. 301). Aus der Perspektive Lindners handelte es sich bei dem Engagement konsequenterweise vor allem um ein soziales und kulturelles Integrationsinteresse der Unternehmer, zu dem auch die Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften oder das Betreiben eines Theaters gehörte. Das Schlusskapitel über Gewerbe- und Industrieausstellungen zwischen 1884 (Odessa) und 1913 (Kiev) demonstriert in anschaulicher Weise die gewachsene Stellung der Unternehmer vor 1914.

Lindners Studie stellt insgesamt überzeugend und differenziert den Aufstieg einer neuen Sozialgruppe im ausgehenden Zarenreich dar. Zurecht betont er, dass dieser Aufstieg weder linear noch konfliktfrei (auch nicht frei von ethnischen oder religiösen Konfliktlagen) oder widerspruchsfrei verlief. Das alles gehört ebenso zum Erbe unternehmerischen Handelns nach 1991. So ist dieses Buch, das leider einige formale Schwächen hat, auch für die Diskussion über Kontinuitäten und Unterschiede zwischen der Zeitperiode vor 1914 und nach 1991 von Bedeutung.

Guido Hausmann, Freiburg

Zitierweise: Guido Hausmann über: Rainer Lindner Unternehmer und Stadt in der Ukraine, 1860–1914. Industrialisierung und soziale Kommunikation im südlichen Zarenreich. UVK Verlagsgesellschaft Konstanz 2006. = Historische Kulturwissenschaft, 10. ISBN: 978-3-89669-609-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 599–600: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hausmann_Lindner_Unternehmer_und_Stadt.html (Datum des Seitenbesuchs)