Von „Sturmvögeln“ und „Don Quixoten“:
Vier Publikationen zu den Parteien des neonarodničestvo in Revolution und Bürgerkrieg

Partija levych socialistov-revoljucionerov: Dokumenty i materialy. T. 1. Ijul’ 1917 g. – maj 1918 g. T. 2, čast 1. Aprel’ ijul’ 1918 g. [Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre: Dokumente und Materialien. Bd. 1. Juli 1917 – Mai 1918, Bd. 2,1. AprilJuli 1918]. Sostavitel’, avtor predislovija, vvedenija i kommentariev Jaroslav Viktorovič Leont’ev. Moskva: Rosspėn, 2000 und 2010. 836 und 773 S. = Po­li­ti­čes­kie partii Rossii. Konec XIX pervaja tret’ XX veka. Dokumental’noe nasledie. ISBN: 978-5-86004-139-4 und 978-5-8243-1474-8.

Aleksandr Ivanovič Jur’ev: Ėsery na istoričeskom perelome (19171918). [Die Sozialrevolutionäre im historischen Umbruch 19171918]. Moskva: Kučkovo pole 2011, 336 S. ISBN: 978-5-9950-0156-0.

Scott B. Smith: Captives of Revolution: The Socialist Revolutionaries and the Bolshevik Dictatorship, 19181923. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2011. XIX, 380 S. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-4403-4.

Die Verdikte von Zeitgenossen und Historikern gleichermaßen über die neonarodniki, insbesondere die Partei der Sozialrevolutionäre (PSR) und die von ihr nach dem Oktoberumsturz 1917 abgespaltene Partei der Linken Sozialrevolutionäre (PLSR), sind Legion. Lenin attestierte den SR bereits in der Revolution von 1905, zu gründlicher und andauernder organisatorischer Arbeit im Proletariat unfähig zu sein. Sie könnten nur effektvolle revolutionäre Phrasen dreschen: Die SR „sind eine Art Sturmvögel, die anzeigen, dass sich im Proletariat die Stimmung hebt“. An dieses Urteil knüpfte die nichtsozialistische Moskauer Tageszeitung „Zarja Rossii“ im Juli 1918 an. Im Unterschied zu den prosaischen und geschäftsmäßigen russischen Sozialdemokraten, die wie die Buchhalter der Revolution wirkten, verfügten die individualistischen (L)SR oft über effektvolles rhetorisches Talent und seien die Propheten, Helden und Poeten der Revolution, doch mangele es ihnen an politischer Weisheit: „Die Don Quixoten der Revolution, sie sind attraktiv auf den Seiten eines Romans; aber äußerst lächerlich in der Politik.“ Zu diesem Zeitpunkt bezeichnete Lenin die LSR bereits als „Partei der Charakterlosen“, die in einem „Sumpf von Betrug und Lüge“ versunken sei und „die Arbeit von Provokateuren“ verrichte. Auf dem V. Allrussländischen Sowjetkongress im Juli 1918 erklärte er die PLSR für „politisch tot“ – ein Urteil, das die Realität im Wesentlichen alsbald bestätigen sollte.1

Den SR und LSR ist das Werk des Professors für russische Geschichte an der MGGU A. I. Jur’ev gewidmet. Seine Darstellung ist janusgesichtig. Eine klare Fragestellung fehlt ebenso wie ein Überblick über den Forschungsstand oder ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Einerseits distanziert sich Jur’ev von den Stereotypen der sowjetischen Forschung über den „kleinbürgerlichen“ und „konterrevolutionären“ Charakter der PSR. Anderseits rekurriert er wiederholt auf den Doyen der sowjetischen Historiographie zu konservativen, bürgerlichen und „kleinbürgerlichen“ politischen Parteien in der Russischen Revolution von 1917/18, den vor 20 Jahren verstorbenen Leonid M. Spirin. Im Übrigen ist auch Jur’evs Wissenschaftsprosa nicht frei von sowjetischen Stereotypen: Die PSR wird einer „kompromisslerischen“ (soglašatel’skoj) Politik sowie der „Vaterlandsverteidigung“ (oborončeskoj) geziehen (S. 236). Mehr noch: Lenin gilt Jur’ev weiterhin als inappellative Instanz (vgl. S. 17). Auf westliche Literatur verzichtet Jur’ev, dafür verweist er mehrfach auf den durch seine kühnen Thesen, aber nicht immer seriösen Umgang mit Quellen- und Literaturangaben bekannten russischen Exilhistoriker Jurij G. Fel’štinskij.

Die Monographie ist als Regionalstudie konzipiert, die die Parteien des neonarodničestvo in den Jahren 1917/18 am Beispiel der zehn Gouvernements des Zentralen Industriegebiets untersucht. Das Werk fußt auf breiter Quellenbasis, mit den Materialien der jeweiligen Gebietsarchive sowie der einschlägigen hauptstädtischen Archive einschließlich desjenigen des Geheimdienstes FSB. Darüber hinaus wurden zahlreiche zeitgenössische Publikationen, Tageszeitungen, Protokolle der Gouvernementssowjetkongresse u. a. m. herangezogen. Aber in der Quellennähe liegt zugleich eine große Schwäche; denn in bester Tradition Rankes skizziert der Verfasser, „wie es eigentlich gewesen“ sei, ohne aber sein Material zu interpretieren. So bleiben selbst haarsträubende bolschewistische Propagandaparolen unkommentiert (vgl. Jur’ev, S. 270). Daher überrascht es nicht, dass Jur’ev sich unsensibilisiert eines Kampfbegriffes des zeitgenössischen politischen Jargons bedient und „rechte“ statt einfach nur SR als Analysekategorie zur Unterscheidung von den LSR verwendet (Jur’ev, S. 178).

Hiervon hebt sich die reflektierte Semantik Smiths, der am Linfield College, Oregon, lehrt, wohltuend ab (Smith, S. 6). Smiths Monographie umfasst im Wesentlichen den Zeitraum von Anfang 1918 bis zum bolschewistischen Schauprozess gegen ein Dutzend führender SR im Sommer 1922. Ihr Ziel ist, die historiographische Sicht der PSR von ihrer sowjetisch geprägten Perspektive zu lösen und die Politik der SR als eine revolutionäre Alternative zu den Bol’ševiki bzw. als dritte Kraft zwischen den beiden politischen Extremen der Roten und der Weißen zu präsentieren. Smith lässt sich von der Hypothese leiten, dass sich die PSR in Abgrenzung zu Bol’ševiki und Men’ševiki weniger von der „Sprache der Klasse“ als vielmehr von der „Sprache der Nation“ habe leiten lassen (S. XIVXV). Er rekurriert dabei auf das Phänomen der gosudarstvennost’, das für zahlreiche einflussreiche sozialrevolutionäre Funktionsträger nach der Februarrevolution, insbesondere nachdem sie ab Mai 1917 Regierungsverantwortung übernommen hatten, die handlungsleitende Maxime geworden sei. Aufgrund spärlicher Informationen über SR auf lokaler Ebene nimmt die Studie vor allem die Parteiführung ins Visier (S. 174175).

Das Verbot der seit März 1918 an Momentum gewinnenden sog. Bevollmächtigtenbewegung der Arbeiter im Juli 1918 symbolisierte zugleich das Scheitern eines legalistischen Kurses von SR und Men’ševiki, der mit der Hoffnung verbunden war, über nichtbolschewistische Mehrheiten in den Sowjets die Politik im Land entscheidend gestalten zu können. Als Folge des Zusammenbruchs vieler Parteiorganisationen, der Pressezensur sowie des Verbots zahlreicher Sowjets durch die Bol’ševiki hatte bereits im Mai 1918 der 8. Parteirat der SR eine neue Taktik verabschiedet: den bewaffneten Kampf gegen das Regime (Smith, S. 35–36, 62, 64). Angesichts der dortigen Schwäche der Bol’ševiki sollte das sozialrevolutionäre Gravitationszentrum im Wolgagebiet liegen. Smith verdeutlicht, dass die PSR in den von ihnen kontrollierten Gebieten zwischen Spätfrühjahr und Herbst 1918 vor denselben Problemen wie die Bol’ševiki stand: Auch sie musste auf Getreiderequisition, Konskription und Spanndienste zurückgreifen, wenn sie ihre Herrschaft sichern wollte. Den SR gelang es nicht, weite Teile der Bevölkerung, die eine Revision der sozialen Revolution – also die Rückgabe des Bodens an die alten Eigentümer – befürchtete, für ihre politischen Ziele zu mobilisieren. Daher scheiterte die von Abgeordneten der Konstituierenden Versammlung ins Leben gerufene demokratische Wolgarepublik in Samara nach viermonatiger Existenz recht klanglos Anfang Oktober 1918 (S. 106 ff, 116117, 120).

Ein Grund für die politische Schwäche der PSR in Revolution und Bürgerkrieg lag in den beträchtlichen innerparteilichen Meinungsverschiedenheiten, die im Herbst 1917 zur Spaltung und dann zur Gründung der PLSR führten. Diese Entwicklung ist u. a. Gegenstand der auf drei Bände konzipierten, aber mehrere Teile umfassenden Quellenedition der PLSR. Ihr Herausgeber Jaroslav Viktorovič Leont’ev kann weltweit wohl als bester Kenner der LSR gelten.2 Der Dokumentation liegen nicht nur Materialien der zentralen Archive aus Moskau und St. Petersburg zugrunde, darunter des Präsidentenarchivs und des FSB, sondern auch der Ukraine und zahlreicher russischer Gebietsarchive. Beläuft sich der Umfang der Anmerkungen im ersten Band noch auf 140 Seiten, verdoppelt er sich im zweiten. Hier werden nicht nur sehr detailliert die Biographien bis hin zu den Heiratskreisen zahlreicher LSR ausgebreitet, sondern im Bd. 2/1 auch zusätzliche Dokumente abgedruckt.

Lediglich drei Dokumente des ersten Bands stammen aus den Sommermonaten 1917 – und damit der Zeit, in der die internationalistische Strömung innerhalb der PSR sukzessive Anhänger gewann. Im Wesentlichen werden die zentralen Parteidokumente, also die Protokolle der drei ersten Parteitage von November 1917, April und Ende Juni bis Anfang Juli 1918 abgedruckt. Im ersten Band nehmen sie zusammen mit den Überlegungen zur Revision des alten PSR-Parteiprogramms und dem provisorischen Parteistatut etwa sechs Siebtel des Umfangs der Dokumente ein.

Für den zweiten Band modifizierte Leont’ev die Editionsprinzipien. Waren anfangs nur Dokumente des Parteizentrums abgedruckt, findet nun in Ausnahmen auch die Provinz Berücksichtigung, beispielsweise mit Dokumenten von der in Smolensk stattfinden Parteikonferenz des Westgebiets, des III. Gebietsparteitages des Urals in Ekaterinburg oder auch von der III. Stadtparteikonferenz Moskaus aus den Monaten Mai und Juni 1918 (S. 45). Während Artikel aus dem Zentralorgan der Partei, „Znamja Truda“, insbesondere im Zusammenhang mit der Propaganda gegen den Frieden von Brest-Litovsk, partiell auch von Parteiorganen aus der Provinz abgedruckt werden, verzichtet der Herausgeber weitgehend auf Verlautbarungen der LSR-Vertreter aus dem Zentralen Exekutivkomitee (VCIK), dem obersten politischen Entscheidungsorgan nach dem Oktoberumsturz, oder von den einzelnen Sowjetkongressen. Eine Ausnahme bilden die Erklärungen der LSR-Fraktion gegen die Versorgungspolitik und die Komitees der Dorfarmut im VCIK von Mitte Juni 1918 sowie der Resolutionsentwurf zur gegenwärtigen Situation auf dem V. Allrussländischen Sowjetkongress (PLSR 2/1, S. 102107, 414417).

Der Friede von Brest-Litovsk vom 3. März 1918 ist in zentraler Aspekt in allen vier Publikationen. Gemäß den Vertragsbedingungen verlor Sowjetrussland über 1 Mio. km² seiner Fläche, 26 % seiner Bevölkerung, 37 % der durchschnittlichen Ernteerträge, 73 % seiner Eisenproduktion und 75 % seiner Kohleförderung. In einem klaren Bruch zur früheren sowjetischen Historiographie vertritt Jur’ev die Auffassung, dass die Autorität der Bol’ševiki durch die Unterzeichnung des Friedensvertrages erheblichen Schaden genommen habe. Sie hätten einen gerechten und demokratischen Frieden versprochen und das Gegenteil erreicht (S. 215). Auch Smith betrachtet den Frieden von Brest-Litovsk als eine einschneidende Zäsur. Die Argumentation beider Autoren fällt bezüglich der PSR zusammen: Nicht die Verteidigung der Sowjetmacht habe demnach für sie auf der Tagesordnung gestanden, sondern die ganz Russlands. Smith hebt im Kontext des Friedens auf einen Paradigmenwechsel der PSR ab: In dem Maße, in dem die Sprache der Nation die der Klasse zurückdrängte, büßten die Protagonisten der sozialen Revolution, wie die linke und die linkszentristische Strömung um M. L. Kogan-Bernštejn und V. M. Černov, denen der IV. Parteitag der PSR eine Mehrheit im ZK beschert hatten3, ihren Handlungsspielraum ein. Erneut gewannen die rechtszentristischen Elemente um A. R. Goc, die die Geschicke der Partei bis zum Oktober 1917 dominiert hatten, die Oberhand. Sie reanimierten die „revolutionäre Vaterlandsverteidigung“. Die SR lehnten wie alle übrigen russischen politischen Parteien die „Kapitu­lation“ des Rats der Volkskommissare vor den Mittelmächten als „Versklavung durch den internationalen Imperialismus“ ab und strebten mit aller Macht die Annullierung des Friedensvertrages an.4

Die wohl bedeutsamste Konsequenz des Friedensschlusses bestand für die PSR darin, dass sie letztlich im Bürgerkrieg des Sommers 1918 dem antibolschewistischen Lager beitrat. Es handelte sich aber nur um eine wenige Monate andauernde Kooperation. Dabei verdeutlicht Smith, dass das ZK der PSR ungeachtet aller Tradition für die terroristischen Attentate auf die bekannten Bol’ševiki Volodarskij, Urickij und Lenin im Juni bzw. August 1918 nicht verantwortlich war. Das ZK distanzierte sich ausdrücklich von ihnen, legte aber gleichwohl gegenüber den Protagonisten des Terrorismus innerhalb der Partei einen bemerkenswerten Langmut an den Tag (Smith, S. 7, 58 ff, 74-81).

Der Waffenstillstand, die deutsche Revolution und die Annullierung des Brester Friedens durch die Bol’ševiki im November 1918 änderte ein weiteres Mal grundsätzlich die Konstellation: Der Klassenstandpunkt gewann in den Überlegungen der SR erneut die Oberhand, und V. M. Černov sondierte umgehend die Chancen einer Kooperation mit den Bol’ševiki. Erst sukzessive reifte bei den SR in den Jahren 1919/20 die Überzeugung heran, dass die Bol’ševiki mit ihrer eigenen Vergangenheit und den sozialistischen Parteien gebrochen hatten, dass man mit ihnen keine gemeinsamen Ziele mehr teilte. Zu diesem Zeitpunkt verfügte die PSR allerdings nicht mehr über einen organisierten Massenanhang, um die Herrschaft der Bol’ševiki ernsthaft gefährden zu können (Smith, S. 37, 4142, 167, 182 ff).

Die LSR lehnten den Separatfrieden ab, weil er die russische Revolution nicht retten würde, sondern im Gegenteil ihre Existenz sogar aufs Spiel zu setzen drohe. Das imperialistische Lager der Mittelmächte werde gestärkt. Damit schwinde die letzte Hoffnung auf die Weltrevolution. Der ursächliche Zusammenhang von äußerer ‚Erfüllungspolitik‘ gegenüber den Mittelmächten, angespannter Versorgungslage und Fabrikschließungen durch den Wegfall der agrarischen Überschussgebiete wie auch der Kohle- und Eisenerzlager der Ukraine war für die LSR offensichtlich. Für die LSR war Lenins „Atempause“ eine Schimäre. Sie zu beenden, erschien ihnen als Panazee der Überwindung aller Übel, an denen Sowjetrussland krankte.

Die Kritik aller Sowjetparteien am Frieden von Brest-Litovsk werteten die Bol’ševiki als konterrevolutionär; sie nutzten deren Propaganda als Vorwand für das Dekret vom 14. Juni 1918 über den Ausschluss der PSR und der Men’ševiki aus dem Zentralen Exekutivkomitee und sukzessive aus vielen weiteren Sowjets. Teilweise kaschierten sie das und installierten revolutionäre Kriegskomitees aus verlässlichen bolschewistischen Kadern (PLSR 2/1, S. 163, 171172; Jur’ev, S. 218235). Die LSR hielten das Dekret für illegitim, erkannten darin einen Verstoß gegen den Wählerwillen und meinten, nur der Wähler selbst habe das Recht, einen Delegierten aus dem Sowjet abzuberufen (PLSR 2/1, S. 135, 192).

Die Dekrete des Rates der Volkskommissare „Über die Ernährungsdiktatur“ und „Über die Komitees der Dorfarmut [kombedy]“ vom Juni 1918 vertieften die Differenzen zwischen den Bol’ševiki und den übrigen sozialistischen Parteien. Beide Dekrete widersprachen nicht nur dem linkssozialrevolutionären Credo eines dezentralisierten, föderativen Staatsaufbaus. Sie bedrohten alle, die über „Getreideüberschüsse“ verfügten und damit auch die „werktätige Bauernschaft“, die Klientel der PLSR. Wegen fehlender Kriterien blieb unklar, was unter „Getreideüberschüssen“ zu verstehen war. Die LSR kritisierten, dass die Requisitionsabteilungen (prodotrjady), die über außerordentliche Vollmachten verfügten, einen Angriff auf die Politik der lokalen Sowjets darstellten, weil sie außerhalb ihrer Kontrolle agierten und folglich ein Willkürregiment praktizierten. Das ZK der PLSR verbot Parteimitgliedern, in ihnen mitzuwirken.5 Die prodotrjady waren verantwortlich für eine Explosion der Gewalt auf dem flachen Land (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Političeskoj Istorii, f. 274, op. 1, d. 30, l. 60; Smith, S. 68).

Während alle politischen Parteien seit Jahresbeginn 1918 einen deutlichen Mitgliederschwund zu verzeichnen hatten, erfreuten sich die LSR wachsender Popularität und steigender Mitgliederzahlen (PLSR 2/1, S. 148, 152, 159, 169). In der Tat spricht vieles dafür, dass die Bol’ševiki erstens ihre Schwäche in den Sowjets, insbesondere in den Amtsbezirken, wo sie oft überhaupt nicht präsent waren, durch die Gründung der kombedy zu kompensieren versuchten. Zweitens ist es durchaus plausibel, dass die Bol’ševiki Wachstum und Popularität der LSR als Bedrohung ihrer Machtposition empfanden und deshalb versuchten, sich ihrer zu entledigen (Jur’ev, S. 211, 272).

Den Grad der Entfremdung zwischen den einstigen Koalitionspartnern veranschaulichen die Ereignisse in Jaroslavl’. Hier forderten die LSR Anfang Juni 1918 die unverzügliche Einberufung eines außerordentlichen Gouvernementssowjetkongresses. Sie begründeten ihr Ansinnen mit der Weigerung der Bol’ševiki, die Organisation der völlig unzureichenden Versorgung zu optimieren. Die Bol’ševiki handelten prompt: Sie untersagten jedwede Publikation zu diesem Thema, konfiszierten die bereits gedruckten linkssozialrevolutionären Aufrufe zur Einberufung des außerordentlichen Gouvernementssowjetkongresses, verboten das LSR-Organ „Novyj Put’“, bezichtigten die LSR der Machtusurpation und einer antisowjetischen Haltung. Ohne die LSR darüber zu informieren, beriefen die Bol’ševiki eiligst eine Sondersitzung des Exekutivkomitees ein und ließen dieses Gremium neu wählen, was die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten veränderte. Damit nicht genug, verhafteten die Bol’ševiki auch noch mehrere LSR. Die LSR warfen daraufhin zum einen den Bol’ševiki vor, diese verdankten ihre Mehrheit im Sowjet nicht der Wahl durch die Basis, sondern der bloßen Kooptation; sie sprachen dem Gremium jede Kompetenz ab und argumentierten formaljuristisch, dass nur ein Sowjetkongress ein legitimes neues Exekutivkomitee küren könne. Zum anderen stellten sie den Bol’ševiki ein Ultimatum: Sollten nicht binnen weniger Stunden alle LSR aus der Haft entlassen werden, behalte sich die Partei die Freiheit des Handelns vor. Dies war eine unverhohlene Drohung, gegen die Bol’ševiki mit Waffengewalt vorzugehen. In dieser Situation forderte der VCIK-Vorsitzende Sverdlov in einem Telegramm die Konfliktparteien auf, Ruhe zu bewahren. Er bezeichnete den Inzident als ein „unzulässiges Missverständnis“ und die Schließung der Zeitung als illegitim, optierte für eine Mediation, um den Konflikt beizulegen, und die Einberufung eines Sowjetkongresses zum 1. Juli. Der Konflikt schwelte gleichwohl weiter. Am 20. Juni begann der außerordentliche Gouvernementssowjetkongress. Über 300 Delegierte aus den Amtsbezirken waren erschienen. An seiner Repräsentativität und Legitimität konnte kein Zweifel bestehen, doch verweigerten die Bol’ševiki, die nur wenige Delegierte stellten, ihm die Anerkennung. Sie verwiesen auf den von ihnen zum 1. Juli anberaumten Kongress, der allerdings bäuerliche Stimmen gegenüber den städtischen im Verhältnis von 1:5 benachteiligte. Unter anderem durch diesen Stimmenproporz verhinderten die Bol’ševiki eine Mehrheit der LSR, die den Kongress verließen und separat mit den Repräsentanten der Amtsbezirke weitertagten. Außerdem hatte Moskau die Bol’ševiki in Jaroslavl’ angewiesen, alles daran zu setzen, die LSR an der Übernahme wichtiger Funktionen zu hindern.6

Den „Kurs der Sowjet-Politik revidiert“ zu haben (vyprjamila liniju sovetskoj politiki), avancierte zum Credo der LSR vor allem auf ihrem III. Parteitag (vgl. Variationen dieser Formulierung PLSR 2/1, S. 48, 131, 167, 176, 182, 192, 651). Das Kalkül der LSR, durch eine Mehrheit auf dem V. Sowjetkongress ihre politischen Vorstellungen durchsetzen zu können, schien aufzugehen. Unter den bis zum 1. Juli 525 eingetroffenen Kongressdelegierten waren – wie verschiedene Tageszeitungen berichteten – nur wenig mehr Bol’ševiki als LSR. In den folgenden Tagen sicherten sich die Bol’ševiki durch verschiedene Manipulationen ihre absolute Mehrheit auf dem Kongress. Für die LSR stellte sich die Frage: Was tun? Wenn sie sich nicht in ihr Schicksal fügen und die Beschlüsse der fingierten bolschewistischen Mehrheit auf dem V. Allrussländischen Sowjetkongress akzeptieren wollten, dann blieb nur eine letzte Handlungsoption. Das Attentat auf den deutschen Gesandten Mirbach war der Versuch, durch ein fait accompli die Außenpolitik Sowjetrusslands zu revidieren. Mit einigen auf den 7. Juli datierten Erklärungen und Aufrufen der LSR zum Attentat auf Mirbach und dem sog. „Juli-Putsch“ endet dieser zweite Band der Dokumentensammlung.

Auf beeindruckend breiter Materialbasis aus sieben Archiven in Moskau, Petersburg, Stanford und Amsterdam, von 80 Periodika, mehreren Dutzend sozialrevolutionärer Broschüren, Erinnerungen, Pamphleten usw. hat Smith eine gut leserliche, nuanciert und plausibel argumentierende Darstellung über den „Schwanengesang“ der PSR verfasst. Allerdings fehlt ein Schluss. In einem Diminuendo, das in gewisser Weise dem sukzessiven Absterben der Parteizellen, der nahezu landesweiten Einstellung der Parteiarbeit – und zwar keineswegs in erster Linie als Folge der Zerschlagung durch die ČK –, dem Desinteresse der sowjetischen Öffentlichkeit auch als Folge einer wachsenden Depolitisierung beispielsweise der Arbeiterschaft (Smith, S. 253 f) entspricht, klingt diese Untersuchung aus. Ihre Schlussbetrachtungen haben mit dem Untersuchungsziel und -zeitraum kaum etwas gemein.

Folgendes Gesamturteil lässt sich ziehen. Mag auch die Regionalstudie Jur’evs Schwächen aufweisen, so ist ihre Detailfülle bemerkenswert. Wer sich mit den SR bzw. LSR in Revolution und Bürgerkrieg beschäftigt, sollte auf die hier vorgestellten Werke nicht verzichten.

Lutz Häfner, Göttingen

 

1W. I. Lenin Werke, Bd. 12. 4. Aufl. Berlin (Ost) 1975, S. 4957, hier S. 5354; Bd. 27, S. 388, 512513, 519; Zarja Rossii, Nr. 60 (6.7.1918), S. 12.

2Verwiesen sei u. a. auf Ja. V. Leont’ev 6 ijulja 1918 goda: regional’nyj aspekt, in: Graždanskaja vojna v Rossii: sobytija, mnenija, ocenki. Pamjati Jurija Ivanoviča Korableva, M. 2002, S. 362388; Ja. V. Leont’ev K istorii sozdanija partii revoljucionnogo socializma, in: Političeskie partii v rossijskich revoljucijach v načale XX veka. Pod red. G. N. Sevost’janova. Moskva 2005, S. 357377; Ja. V. Leont’ev Personal’nyj sostav CK partii levych ėserov (problemy rekonstrukcii), in: Otečestvennaja Istorija (2007), 2, S. 121139; Ja. V. Leont’ev „Skify“ russkoj revoljucii. Partija levych ėserov i ee literaturnye poputčiki, Moskva 2007; Ja. V. Leont’ev Vse organizacii osvedomleniem obespečeny. Dokumenty rossijskich archivov o partii levych ėserov v seredine 1920-ch gg., in: Otečestvennye archivy (2008), 5, S. 93104.

3Centr Dokumentacii Novejšej Istorii Saratovskoj Oblasti, f. 151, op. 1, d. 1.7; d. 3, l. 3.

4The Socialist-Revolutionary Party After October 1917. Documents from the P.S.-R. Archives. Selected, annotated and with an outline of the history of the party during the post-revolutionary period by Marc Jansen. Amsterdam 1989, S. 7576.

5V. A. Karelin Bor’ba s golodom. Moskva 1918, S. 21, 24, 26; PLSR 2/1, S. 91, 95, 99, 102107, 146147, 165, 181, 188189; Jur’ev S. 261.

6Centr Dokumentacii Novejšej Istorii Jaroslavskoj Oblasti, f. 1, op. 27, d. 57, ll. 6, 9, 1114, 1618, 2020 ob; op. 27, d. 13, l. 4; f. 394, op. 3, d. 15, ll. 56; PLSR 2/1, S. 100, 112, 127133, 608, 615 ff; Jur’ev S. 254257.