Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 62 (2014), 2, S. 297-299
Verfasst von: Lutz Häfner
Svetlana Ju. Malyševa: Prazdnyj den’, dosužij večer. Kul’tura dosuga rossijskogo provincial’nogo goroda vtoroj poloviny XIX – načala XX veka. Moskva: Academia, 2011. 192 S., Abb. ISBN: 978-5-87444-389-4.
Nach ihrer 2005 publizierten Studie über die Festkultur der Wolgametropole Kazan’ im ersten Jahrzehnt seit der Russischen Revolution von 1917 wendet sich die Verfasserin mit ihrer neuerlichen der „Schönen des Orients“ gewidmeten Fallstudie nun den Phänomenen der Muße, Erholung und Freizeitgestaltung im ausgehenden Zarenreich zu. Für Malyševa umfasst Freizeit im Sinne von nicht bezahlter Arbeitszeit im Wesentlichen zwei Bereiche: Zum einen den Teil des Tages, der auf Routinehandlungen wie Schlafen, Körperhygiene, Haushalt entfällt, zum anderen jenen, der der Selbstvervollkommnung, Selbstbildung oder Orientierung gilt, den Hobbys, dem Lernen, der Lektüre, der Religionsausübung oder auch dem gesellschaftlichen Engagement.
Die Monographie fußt auf einer breiten Materialgrundlage von Kazaner und Moskauer Archivalien, über die zeitgenössische schöngeistige Literatur sowie ausgewählte Jahrgänge der einschlägigen lokalen Tagespresse bis hin zu einer umfänglichen Auswertung insbesondere auch der deutsch- und englischsprachigen Forschung.
Die Verfasserin gliedert ihr Werk in vier Teile. Das einführende Kapitel thematisiert vor allem die Prozesse interkultureller Kommunikation, die aufs engste mit der im Entstehen begriffenen Konsumgesellschaft und Massenkultur im Ancien régime verbundenen gewesen seien. Hier nimmt die Autorin eine ausführliche Analyse der semantischen Entwicklung bzw. des Wortgebrauchs der Begriffe Erholung, Muße, Müßiggang (otdych, dosug, prazdnost’) in der zeitgenössischen Sprache insbesondere der städtischen Bevölkerung vor. Sie verdeutlicht, dass dosug etwa zwischen 1870 und 1890 einen einschneidenden Bedeutungswechsel erfahren habe und erst seitdem „als von Arbeit freie Zeit“ verstanden worden sei (S. 21). Sie führt aus, dass die erwähnten Begriffe allgemeinverständlich für die Angehörigen aller Schichten bzw. Stände gewesen, aber gleichwohl nicht oft verwendet worden seien. Vielmehr seien im alltäglichen Sprachgebrauch konkrete Formulierungen wie „Karten spielen“ oder „in die Kneipe gehen“ üblich gewesen. Formulierungen wie „Muße-Stunden“, so Malyševa, waren Bestandteil des Vokabulars der Beobachter und nicht der aktiv Beteiligten (S. 18).
Der zweite Abschnitt widmet sich anhand der Trias Individuum – Gesellschaft – Staat den normativen Rahmenbedingungen der von Arbeit freien Zeit. Breiten Raum nimmt die Diskussion temporaler Parameter ein, nämlich die im Zarenreich zunächst lokal von den Stadtverordnetenversammlungen, dann insbesondere im Kontext der Revolution von 1905 intensiv durch die Ministerien und ihre Expertenkonferenzen diskutierten Regelungen der Freizeit der Ladenangestellten. Eine verbindliche Regelung für alle war aber in einer multikonfessionellen Stadt wie Kazan’ schwierig durchzusetzen, da Russen, Muslime und Juden unterschiedliche Ruhetage aufwiesen und die christliche Sonntagsruhe beispielsweise inkompatibel mit den Interessen jüdischer oder muslimischer Kaufleute und Händler, aber auch deren Angestellten war (S. 49–65). Angesichts der täglichen Arbeitszeiten der Handwerker – gerade in kleineren Werkstätten der Provinz waren 14 Stunden keine Seltenheit – waren Mußestunden knapp bemessen und daher ein kostbares Gut. Im Gegensatz zu dem St. Petersburger Historiker B. N. Mironov vertritt Malyševa die Auffassung, dass die Zahl der staatlichen und religiösen Feiertage nach der Bauernbefreiung deutlich geringer gewesen sei und sich – abgesehen von den Sonntagen – auf maximal 40 belaufen habe. Mit Rekurs auf die Angaben des Moskauer Fabrikinspektors I. I. Janžul für den Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hätten die Feiertage in den Fabriken einen Monat nicht überstiegen und ihre Zahl sei auf Initiativen des Reichsrats noch weiter verringert worden (S. 40–45).
Der dritte Teil thematisiert die Freizeitgestaltung. Hier werden unterschiedliche Foren der Freizeitgestaltung erörtert, von dem sich entwickelnden Vereinswesen über Theater, Musikveranstaltungen, Kino, Bibliotheken, Restaurants, Ausflugsorte, Parks und Spaziergänge, Gaststätten und Kneipen mit einem Exkurs zum Bordell oder weniger elitäre öffentliche Veranstaltungen wie Zirkus oder Jahrmärkte bis hinein in den eher halböffentlichen oder sogar privaten Bereich des Salons und der Literaturabende (S. 80–122).
Gegenstand des abschließenden Kapitels sind Formen und Strukturen der Freizeitgestaltung, die Normen, Vorschriften, Grenzziehungen, Ge- und Verbote sowie die Parallelexistenz alter und neuer Muster der Freizeitgestaltung. Der Verfasserin hebt auf den beträchtlichen Einfluss der Scharia ab, die der muslimischen Bevölkerung Musik, Tanz, Gesang, Theater und weitere Vergnügungen untersagte (S. 138), verdeutlicht aber auch, dass die Geistlichkeit oft die Augen vor der Übertretung religiöser Vorschriften verschloss (S. 172 ff.). Malyševa hebt auch auf den Wandel der Freizeitgestaltung im Laufe der Zeit ab. Ältere Formen der Vergnügungen wie der Jahrmarkt hätte durch das (Volks)-Theater an Bedeutung verloren, während im Theater in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Operette ihren Siegeszug angetreten habe (S. 154–155). Neben der ständischen bzw. sozialen Zugehörigkeit, dem Freizeit- und verfügbaren Geldbudget zählten auch das Alter, das Geschlecht, die Religion und die Ethnizität, wie die Verfasserin am Beispiel des Theaters, aber auch der traditionellen, unter freiem Himmel stattfindenden Faustkämpfe illustriert (S. 123, 145 ff.), zu den wichtigen In- und Exklusionsmechanismen bzw. Segregationkriterien (S. 138, 165).
Aufschlussreich ist, wie die städtische Bevölkerung im multiethnischen Kazan’ an den unterschiedlichen ‚nationalen‘ Feiertagen des jeweils anderen Bevölkerungsteils partizipierte: die muslimischen Tataren bei den russisch-orthodoxen und umgekehrt. Dabei legt die Autorin besonderen Wert auf die Brückenfunktion tatarischer Frauen, die ihre Freizeit – wenn es auch Vorbehalte unter traditionsbewussten konservativen Muslimen gab – durchaus mit russischen Männern beim Tanz oder im Theater verbringen durften, nicht aber mit Männern ihrer ethnokonfessionellen Gruppe. Russisch-tatarische Eheschließungen waren selten und dürften ein Grund für die gemeinsame Freizeitgestaltung gewesen sein, weil die Gefahr, dass zarte Bande geknüpft werden konnten, zu vernachlässigen war. Malyševa zeichnet insgesamt das weitgehend ungetrübte Bild einer friedlichen Koexistenz, verzichtet aber darauf, etwaige Ruhestörer wie möglicherweise Angehörige des Russischen Klubs oder des „Bundes des Russischen Volks“ zu erwähnen (S. 30–34). Es stellt sich die Frage, ob die Harmonie wirklich so ausgeprägt war.
Ähnlich wie beispielsweise Louise McReynolds illustriert Malyševa anhand ihrer Fallstudie den Wandel zunächst oft elitärer Weisen der Freizeitgestaltung zu populären Formen, also eine Form der Demokratisierung und Vermassung. Zu bedauern ist, dass Malyševas einleitende Angaben zur ethnischen und sozialen Struktur Kazan’s lediglich eine Momentaufnahme auf der Basis der Angaben der Volkszählung von 1897 präsentieren, ohne aber die weiterführenden städtischen und zentralstaatlichen Statistiken zu berücksichtigen. Durch diese methodische Vorentscheidung lässt sich die Dynamik der rapiden sozialen Entwicklung der Stadt leider im Freizeitverhalten ihrer Bevölkerung nur bedingt nachvollziehen (vgl. S. 11). Dieser Einwand kann aber das positive Gesamtbild nicht trüben. Die Schlussfolgerung der Verfasserin, dass kein struktureller Unterschied zwischen Haupt- und Provinzstädten in Bezug auf die Formen der Freizeitgestaltung bestanden habe, sondern äußerstenfalls ein qualitativer, klingt plausibel. Wer sich mit der Freizeitgestaltung im ausgehenden Zarenreich beschäftigt, sollte diese mit zahlreichen Abbildungen versehene Lokalstudie unbedingt zur Hand nehmen.
Zitierweise: Lutz Häfner über: Svetlana Ju. Malyševa: Prazdnyj den’, dosužij večer. Kul’tura dosuga rossijskogo provincial’nogo goroda vtoroj poloviny XIX – načala XX veka. Moskva: Academia, 2011. 192 S., Abb. ISBN: 978-5-87444-389-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Malyseva_Prazdnyj_den_dosuznyj_vecer.html (Datum des Seitenbesuchs)
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