Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 448-450

Verfasst von: Lutz Häfner

 

Ol’ga Ju. Malinova-Tziafeta: Iz goroda na daču. Sociokul’turnye faktory osvoenija dačnogo prostranstva vokrug Peterburga (1860–1914) [Aus der Stadt auf die Dača. Soziokulturelle Faktoren der Herausbildung des Dača-Gürtels um St. Petersburg]. S.-Peterburg: Izdat. Evropejskogo Universiteta, 2013. 335 S., Abb., Tab., Graph., 1 Kte. = Territorii istorii, 5. ISBN: 978-5-94380-137-2.

Die ‚große Völkerwanderung‘ aus der staubigen und stickigen Hauptstadt ins Dorf, dichter an die Natur, setzt ein. Die gesamte Umgebung St. Petersburgs, 50 bis 100 Werst [eine versta = 1,067 km; Anm. LH] rundherum, ist mit Sommergästen besiedelt. Jede Lichtung, jeder Sumpf, jeder Bach, jeder Hügel ist besetzt: Hier sitzt bestimmt irgendein Sommerfrischler.“ Mit diesen Worten beschrieb der bekannte russische Schriftsteller und Journalist Anatolij Aleksandrovič Bachtiarov in einem kurzen Feuilleton, das in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Naša Pišča zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts erschien, ein alljährliches Kultur-Phänomen. Diesen Exodus zehntausender Menschen, die nach der Kündigung ihrer Wohnung mit einem guten Teil ihres Hausstands die Hauptstadt verließen (S. 72), um die warme Jahreszeit in bukolischer Idylle zu verleben, bevor sie im Herbst zumeist in ein neues städtisches Domizil zurückkehrten, hat Malinova-Tziafeta zum Gegenstand ihrer nun in überarbeiteter Fassung vorgelegten Dissertation aus dem Jahre 2006 gewählt.

Im Unterschied zu Stephen Lovells vor einem guten Jahrzehnt erschienener, fast dreihundert Jahre umspannender Kulturgeschichte über die Sommerfrische verfolgt die Verfasserin einen zeitlich und räumlich weniger umfassenden Ansatz. Zum einen beschränkt sie sich auf St. Petersburg und seine Umgebung – von Oranienbaum im Westen über Vyborg im Norden, von Šlissel’burg und Sablino im Osten bis hin nach Luga im Süden – in dem halben Jahrhundert vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Zum anderen rückt sie mit dem Wechselspiel von Stadt, Hygiene, Krankheit, Umwelt und Sommerfrische – letztere wurde massenhaft erst durch den Eisenbahnbau ermöglicht (S. 15) – andere Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Studie. In diesem Kontext betont sie, dass sich der Staat unter der Ägide Zar Alexanders II. weitgehend aus der Gestaltung sowohl des städtischen Weichbildes als auch ihres Umlandes herausgehalten habe. Daher haben hier Stadtväter, städtische Öffentlichkeit und wohl auch die Zemstva, die die Verfasserin allerdings nicht erwähnt, ihr Betätigungsfeld gefunden. Die Darstellung verfolgt das ambitionierte Ziel, nicht nur die Aneignung der hauptstädtischen Umgebung durch den „kleinen Mann“, sondern zugleich auch die medizin- und hygienewissenschaftlichen Diskurse zur Gesundung St. Petersburgs aufzuzeigen. Vor diesem Hintergrund vertritt die Verfasserin die These, die dača sei die Panazee für die vordringlichsten (Hygiene-)Probleme der Hauptstadt des Zarenreichs gewesen (S. 14).

Das Werk ist systematisch in vier Kapitel gegliedert. Der erste Abschnitt thematisiert sowohl den juristischen Bedeutungswandel des Wortes dača als auch ihre gesellschaftlichen Implikationen: von einem Eliten- zu einem Massenphänomen, dessen erster Boom in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts stattfand, also mit der ersten Choleraepidemie 1832 zusammenfiel (S. 47 ff.). Da diese Epidemie im folgenden Dreivierteljahrhundert die Menschen, ihre Verhaltensweisen und ihre Hygienemuster prägte, hat die Verfasserin ihre Darstellung entsprechend strukturiert. Das zweite Kapitel behandelt nämlich im weitesten Sinne die „Wohnraumfrage“: Die unzureichende Hygiene bzw. Wohlfahrtspflege (blagoustrojstvo) kann gleichsam als Achillesferse städtischen Lebens der russländischen wie auch der außereuropäischen Moderne bezeichnet werden. In diesem Kontext sei vor allem auf unzureichende Trinkwasserversorgung, fehlende Kanalisation und jeglicher Beschreibung spottende sanitäre Verhältnisse verwiesen, die den zeitgenössischen, von Bachtiarov oben beschriebenen jahreszeitlichen Wechsel der Bevölkerung umso verständlicher erscheinen lassen. Der dritte Teil behandelt mit Rekurs u.a. auf Jochen Radkaus 1994 erschienene Studie das Nervöse Zeitalter das pathogene Potential der Städte: den Lärm, den Staub, die Schnelllebigkeit und die daraus partiell resultierende Neurasthenie ihrer Bewohner, die immer wieder von Ärzten diagnostizierte „Mode“-Krankheit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Darüber hinaus geht es um den Gegenpol dieser Entwicklungen: die Repräsentationen der dača als einen (H)Ort der reinen, sauberen und unverfälschten Natur, in welcher der von Stress und Umwelt heimgesuchte Städter entspannen, sich regenerieren, im wahren Wortsinne reine Luft schöpfen konnte, um, durch die Sommerfrische gestärkt, für die seelischen und körperlichen Anfeindungen des städtischen Lebens gestählt zu sein. Das abschließende Kapitel untersucht einerseits den kausalen Nexus von verkehrsinfrastruktureller Entwicklung St. Petersburg und seiner räumlichen Umgebung durch die Eisenbahn sowie anderseits den Alltag der Passagiere. Das Motto: Wenn einer eine Reise tut, dann kann er etwas erzählen, hat keineswegs nur Gültigkeit für den Fahrgast der DB. Es galt bereits mit weitaus extremeren Vorfällen, wie die Verfasserin eindringlich schildert, für die Pendler zwischen St. Petersburg und ihrer Sommerfrische.

Die Studie basiert nicht auf einer Vielzahl von Archivalien. Im Gegenteil: Wer die Anmerkungen aufmerksam durchsieht, wird hier nur wenige Angaben finden, vor allem, und dies überrascht, keine aus den umfangreichen Beständen des Petersburger Zentralen Staatlichen Historischen Archivs (Central’nyj Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv SPb). Das Rückgrat der Studie bilden zwei Periodika: Das Petersburger Massenblatt Peterburgskij Lis­tok und die Fragen der Hygiene und Medizin thematisierende, populärwissenschaftliche Zeitschrift Zdorov’e, die zwischen 1874 und 1885 erschien. Methodisch ist erstens einzuwenden, dass sich die Verfasserin eng an diese Quellen anlehnt und ihr somit das Korrektiv durch eine zweite ‚seriösere‘ Tageszeitung, bzw. durch ein weiteres Journal, die beide über einen längeren Zeitraum hätten ausgewertet werden müssen, fehlt. Der zweite Einwand gilt dem Zeitrahmen; denn die Autorin hat beide Periodika vor allem für die siebziger, z.T. die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts ausgewertet. Lässt sich so ein halbes Jahrhundert abdecken? Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Ihr Kenntnisreichtum der Forschungsliteratur ist stupend, die Darstellung beeindruckend und gut zu lesen. Und doch nähren sie den Zweifel, den Ingeborg Bachmann, mit dem geflügelten Wort „gut gesagt, ist halb gelogen“ pointiert zum Ausdruck gebracht hat. So wirft die Verfasserin mit Blick auf die permanenten Auseinandersetzungen zwischen Eisenbahnen, Personal und Fahrgästen den Aspekt des Verbraucherschutzes auf und vertritt die Auffassung, die Öffentlichkeit habe diese Funktion ausgeübt (S. 247, 300). Spricht nicht aber die Tatsache, dass die Presse über einen Zeitraum vieler Jahre nahezu identisch berichtete und sich die Beschwerdebücher schnell füllten, für das Gegenteil? Auch widerspricht die Autorin der Behauptung, dass es keine Indizien einer Aufhebung des asymmetrischen Verhältnisses zwischen den Eisenbahngesellschaften und ihren Kunden, keine Anzeichen einer Verrechtlichung durch die Veröffentlichung der Transportbedingungen oder Schritte einer Institutionalisierung – beispielsweise durch eine Schiedskommission, von Gesetzen ganz zu schweigen, gegeben habe (vgl. S. 244–247, 257). Befund und Darstellung klaffen auseinander. Aber vielleicht ist das nur ein weiteres Beispiel für die bereits klassisch zu nennende Kluft zwischen den Optimisten und Pessimisten. Dem Gesamturteil tun diese Einwände keinen Abbruch: Es handelt sich nicht nur wegen der zahlreichen abgedruckten Photographien um ein schönes Buch, sondern auch, weil die Darstellung fesselt und: zum Nachdenken anregt. Wer sich mit der Geschichte der Stadt, der Hygiene, der Kommunikation bzw. des Verkehrs beschäftigt, dem sei dieses Werk nachdrücklich ans Herz gelegt.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: Ol’ga Ju. Malinova-Tziafeta: Iz goroda na daču. Sociokul’turnye faktory osvoenija dačnogo prostranstva vokrug Peterburga (1860–1914) [Aus der Stadt auf die Dača. Soziokulturelle Faktoren der Herausbildung des Dača-Gürtels um St. Petersburg]. S.-Peterburg: Izdat. Evropejskogo Universiteta, 2013. 335 S., Abb., Tab., Graph., 1 Kte. = Territorii istorii, 5. ISBN: 978-5-94380-137-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Haefner_Malinova-Tziafeta_Iz_goroda_na_dacu.html (Datum des Seitenbesuchs)

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