Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 1, S. 144-145

Verfasst von: Frank Grelka

 

Wolfgang Curilla: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939–1945. Paderborn [usw.]: Ferdinand Schöningh, 2011. 1035 S., 23 Abb., 3 Ktn., Tab. ISBN: 978-3-506-77043-1.

Mit Zahlenwerk versucht der Autor seine Schlussfolgerung von der deutschen Ordnungspolizei als dem „entscheidenden Instrument bei der Durchführung des Judenmords“ (S. 898) in Polen zu belegen. In Anknüpfung an den Band „Ordnungspolizei im Baltikum und Weißrussland“ von 2005 wird der Leser mit einer Opferziffer von 3.125.403 für beide Gebiete konfrontiert. Eine wissenschaftliche Monographie im herkömmlichen Sinne liegt nicht vor, denn entgegen der im Titel suggerierten Absicht interessiert sich der Verfasser nicht für die Art und den Grad der Verwicklung der Polizei im NS-Staat in den Holocaust. Auch wenn ein entsprechender Untertitel fehlt, handelt es sich um ein Nachschlagewerk zur strafrechtlichen Verfolgung von Verbrechen deutscher Polizeiverbände auf dem Gebiet Polens in seinen Nachkriegsgrenzen durch bundesdeutsche, österreichische und DDR-Justizorgane. Der Autor verzichtet ebenfalls auf methodische Vorüberlegungen zum zeithistorischen quellenkundlichen Wert von Strafprozessakten. Ziel dieser Studie ist ein tabellarischer Body Count sämtlicher von Mitgliedern der Ordnungspolizei in den besetzten polnischen Gebieten ermordeter Juden. Im ersten Teil des Buches wird bei neun Anmerkungen pro Seite das Bemühen des Autors spürbar, den aktuellen Forschungsstand zur deutschen Besatzungspolitik in Polen wiederzugeben. Im Hauptteil wird die Okkupation auf 738 Seiten aus der Sicht verschiedener Einheiten der Ordnungspolizei und geographisch geordnet nach den Verwaltungsgebieten abgehandelt. Gerade in Bezug auf die Gesamtopferzahl ist der Verzicht auf den Distrikt Galizien kaum nachvollziehbar, wo doch gerade für diesen besonders gut erforschten Teil des Generalgouvernements entsprechende Verfahren wegen ihrer immensen Fülle bekannt sind und die Dichte der Beteiligung örtlicher Gendarmerieposten an den Erschießungen überdurchschnittlich hoch war. Im Abschnitt „Quantifizierung“ präsentiert der Verfasser in einer siebenseitigen Tabelle die von ihm ermittelte Zahl der Tötungshandlungen, an denen „Ordnungspolizisten tatsächlich teilgenommen haben“ (S. 835). Im Vergleich zum Band Baltikum und Weißrussland ist im Polen-Band ein Quellenverzeichnis aufgenommen worden. Daraus geht hervor, dass neben den einschlägigen zeitgenössischen Archivbeständen in Deutschland und den Ermittlungsakten west- und ostdeutscher Justizorgane lobenswerterweise auch österreichische Justizakten berücksichtigt werden konnten.

Während sich Curilla sonst ganz auf die umfangreiche Literatur zum Thema verlässt und sich weiterführende Schlussfolgerungen verwehrt (S. 885), geht er bei seiner Bestimmung der Täter und ihrer zivilen Opfer unten den Juden im nationalsozialistisch besetzten Polen eigene Wege und verlässt sich nicht auf Schätzungen von Regierungen oder Holocaust-Forschern. Wie bereits die Einleitung ohne thematisch einschränkende Fragestellungen, bleibt auch dieser innovative Ansatz des Kompendiums wissenschaftlich nur eingeschränkt tragfähig. Es widerspricht der situativen Dynamik des Geschehens am Ort, die Taten von rund 30.000 Ordnungspolizisten so vollständig wie möglich nach dem immer gleichen Schema aufzulisten. Zwar überzeugt der Autor mit bewährter Akribie bei der Rekonstruktion von Aufstellung, Unterstellung, Kommandostruktur und Einsatzgebieten einzelner Polizeiverbände, aber er wäre gut beraten gewesen, beim Grad der Beteiligung bei Prozentzahlen zu bleiben und nicht mit absoluten Opferzahlen zu operieren. So wirkt diese Zahlenstatistik vor allem apodiktisch. Waren deutsche Polizeieinheiten sehr wohl für einen Großteil der Massenerschießungen vor und während der Liquidierung der Ghettos verantwortlich, so hat der Autor verständlicherweise doch Mühe, die Opfer bestimmten Tätereinheiten eindeutig zuzuschreiben; so etwa, wenn es um die sogenannten „Aktionen“ im Vorlauf von Deportationen in die Vernichtungslager geht, die Massenmorde in den Vernichtungslagern selbst, an denen neben der Ordnungspolizei eine Vielzahl von anderen Verbänden der SS, der Einsatzgruppen, der Gestapo, einheimischer Hilfswilliger und Polizeiverbände beteiligt waren. Der Autor benennt dieses Problem, versäumt es aber, sich quellenkritisch mit dem Tatort auseinanderzusetzen (etwa im Rahmen einer Fallstudie), sondern belässt es bei dem lapidaren Vorbehalt, keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen (S. 16). Für die Rekonstruktion des Mordens in Dörfern und kleinsten Ansiedlungen ist eine mikroperspektivische Auseinandersetzung mit polnischen Justizakten, die zeitlich nahe am Geschehen sind und tiefe Einblicke in die Rolle der deutschen Polizei erlauben, historisch unabdingbar. Es ist legitim, dass der Verfasser die Ermittlungstätigkeit der im März 1945 gegründeten Hauptkommission zur Erforschung der deutschen Verbrechen in Polen nicht berücksichtigt (diesbezüglich steht die Forschung erst am Anfang); für sein Anliegen, die Opferzahlen in Polen seriös zu quantifizieren wäre ein Studium der nachgeordneten regionalen Behörden aber immerhin grundlegend gewesen. So wurden allein von der Bezirkskommission in Lublin in den Jahren 1963 bis 1991 beinahe 4.000 Verfahren geführt und dabei weit mehr als 20.000 Zeugen befragt, wobei selbstverständlich ein Teil dieser NS-Verfahren auch Verbrechen an nichtjüdischen Residenten betraf. Einen ersten Einblick in den Umfang der Verfahren bietet die hierzulande kaum rezipierte Reihe „Rejestr miejsc i faktów zbrodni popełnionych przez okupanta hitlerowskiego na ziemiach polskich w latach 1939–1945“, in welcher auf Basis des Archivs der Hauptkommission Woiwodschaft für Woiwodschaft Tatorte und Opferzahlen mit Hinweis auf entsprechende Aktensignaturen benannt sind. So nahm etwa das Gendarmerie-Bataillon 1 (mot.) laut zeitgenössischen deutschen Dokumenten an 255 Aktionen im gesamten Gebiet des Distrikts Lublin teil. Polnischen Ermittlungen zufolge hat diese Einheit an zahlreichen weiteren Tatorten an Judenerschießungen teilgenommen, die aber im vorliegenden Band nicht dokumentiert werden, ganz zu schweigen von der Mehrzahl der Verbrechen deutscher Polizisten, die polnische Ermittler keinen konkreten Tätern zuordnen konnten. Dies ist auch ein Grund dafür, warum solche Ermittlungsergebnisse, sofern sie den Akten als Übersetzungen beilagen, nur in seltenen Fällen in die Anklageschriften deutscher und österreichischer Staatsanwälte einflossen. Die dort aufgrund der detaillierten Schilderungen polnischer Dorfvorsteher, Dorfpolizisten, Totengräber etc. genannten Opferzahlen für ihre jüdischen Nachbarn würde eine vom Verfasser zu recht angenommen „Dunkelziffer“ für das gesamte hier betrachtete Gebiet nicht unbeträchtlich aufhellen. Wer etwas zur Rolle der Ordnungspolizei jenseits dieser Zahlen erfahren möchte, zur Natur des Judenmordes unter Beteiligung von Gendarmen, die nicht selten mehrere Jahre mit den Opfern in einem Ort zusammenlebten, ehe sie deren Ghettos liquidierten und sie auf dem Weg zum Deportationsbahnhof, auf dem örtlichen jüdischen Friedhof oder in einem naheliegenden Wald erschossen, wird enttäuscht sein. Der Band liest sich wie eine staatsanwaltschaftliche Aufstellung nicht zu einem, sondern zu allen dem Verfasser bekannten justitiabel gewordenen nationalsozialistischen Gewaltverbrechen der Ordnungspolizei in Polen. Die Stärke des Bandes liegt zweifellos in der Flut an Beweisen für die Verwicklung der Polizei in den systematischen Mordprozess. Zwangsläufig müssen bei dieser Art der dezidierten Täterforschung elementare Aspekte der Gesellschaftsgeschichte der Shoah ausgeblendet bleiben. Für den Fachhistoriker ist der Band nichtsdestoweniger ein äußerst nützliches Hilfsmittel zur Erforschung der Ermordung der Juden im lokalen Kontext: Umfangreiche Orts-, Personen- und Einheitenregister ermöglichen einen schnellen Zugriff. Beim Verzeichnis der Gerichtsentscheidungen hätte man sich die geographische Ordnung nach Tatorten getreu dem Inhaltsverzeichnis gewünscht. Das gesamte Nachschlagewerk ist schließlich eine willkommene Ergänzung des IfZ-Projekts zur Inventarisierung aller Justizverfahren zu NS-Verbrechen, die seit 1945 von Staatsanwaltschaften und Gerichten in West- und Ostdeutschland durchgeführt worden sind und deren Ergebnisse den Forschern in einer Datenbank zur Verfügung gestellt werden.

Frank Grelka, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Frank Grelka über: Wolfgang Curilla: Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939–1945. Paderborn [usw.]: Ferdinand Schöningh, 2011. 1035 S., 23 Abb., 3 Ktn., Tab. ISBN: 978-3-506-77043-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Grelka_Curilla_Judenmord_in_Polen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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