Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 423-425

Verfasst von: Jörg Ganzenmüller

 

Eva Maurer: Wege zum Pik Stalin. Sowjetische Alpinisten, 1928–1953. Zürich: Chronos, 2010. 496 S., 17 Abb., 4 Ktn., Tab. ISBN: 978-3-0340-0977-5.

Das kommunistische Projekt hatte sich zum Ziel gesetzt, in alle Lebensbereiche der Menschen vorzustoßen und diese zu verändern. Nach Revolution und Bürgerkrieg ging es für die Bolschewiki jedoch zunächst einmal darum, die Weite des Russischen Imperiums zu durchdringen und auch in den entlegenen Provinzen Fuß zu fassen. Stalin trieb diese Politik durch die Kollektivierung der Landwirtschaft und die forcierte Industrialisierung entschieden voran. Die Unterwerfung des Landes und der radikale Umbau der Gesellschaft gingen bei der Etablierung stalinistischer Herrschaft Hand in Hand. Eva Maurer untersucht in ihrer Marburger Dissertation diese wichtige Weichenstellung der russischen Geschichte am Beispiel der sowjetischen Alpinisten. Exemplarisch erforscht sie das Verhältnis von Individuum und Kollektiv und fragt nach den Handlungsspielräumen innerhalb des stalinistischen Systems. Indem sie die sowjetischen Alpinisten als Akteure und nicht als passive Opfer einer angeblich totalitären Herrschaft begreift, geraten zum einen jene Handlungsstrategien und Nischen in den Blick, mit deren Hilfe sich die Menschen den umfassenden Ansprüchen des Staates entzogen haben. Andererseits zeigt die Studie auch, in welcher Weise sich die Alpinisten aktiv an der Konstruktion einer sowjetischen Identität beteiligt haben.

Der Alpinismus erweist sich aus mehreren Gründen als fruchtbarer Untersuchungsgegenstand. Die Unzugänglichkeit des Hochgebirges repräsentiert die schwache Präsenz der Bolschewiki jenseits der Zentren des Reiches. Es erscheint symptomatisch, dass die Inbesitznahme der Berge zunächst auf symbolische Weise erfolgte. Noch ehe man die höchsten Gipfel bezwang, vereinnahmte man sie bereits für die Revolution. So entstand im Pamir ein frühsowjetisches Pantheon mit einem Pik Lenin, einem Pik Dzeržinskij oder einem Pik Sverdlov. Der Name Stalins blieb dem höchsten Gipfel vorbehalten. Die tatsächliche Erschließung ging mit einer Bestätigung der symbolischen Besitznahme einher. Selbst bei waghalsigen Erstbesteigungen führten die Bergsteiger eine Büste des Namenpatrons mit, um diese dann nach erfolgreichem Gipfelsturm triumphal aufzustellen.

Die in die freie Welt der Berge strebenden Alpinisten standen in einem besonderen Widerspruch zum Bedürfnis der Bolschewiki, die gesamte Bevölkerung einer staatlichen Kontrolle zu unterwerfen. Die Wechselbeziehung zwischen den Machthabern und den Alpinisten bildet einen zweiten inhaltlichen Schwerpunkt der Studie. Im Stalinismus wuchs das Bestreben des paternalistischen Staates, auch ‚die Freiheit der Berge‘ zu überwachen. Die Alpinisten mussten deshalb vor hochgestellten Funktionären, die von der Sache wenig verstanden, Rechenschaft über ihre Touren ablegen. Diese Praxis war nicht nur ein Unterwerfungsritual der Bergsteiger gegenüber der Sowjetmacht. Vielmehr suchten die Alpinisten ihrerseits bei staatlichen Stellen um Protektion und materielle Ressourcen nach. Die zuständigen Funktionäre gewährten diese nicht uneigennützig, sondern sonnten sich in den Erfolgen der Alpinisten und nutzten diese für den eigenen Prestigezuwachs.

Die Alpinisten schrieben sich in die jeweils dominierenden Diskurse ein und verstanden es geschickt, ihre Interessen in einem sich stetig wandelnden ideologischen Umfeld zu vertreten. So diffamierte man das individuelle Bergsteigen und wies auf die Vorzüge einer Seilschaft hin, die man nun Kollektiv nannte. Zu Beginn der dreißiger Jahre pries man noch das proletarische Bergsteigen, das sich von der bürgerlichen Rekordsucht dadurch abhob, dass man nicht jeden Gipfel erklomm, sondern auch einmal ein neues Wasserkraftwerk am Wegesrand besichtigte und mit den dortigen Arbeitern in Kontakt trat. Ende der dreißiger Jahre warnte man hingegen vor vermeintlichen Spionen, die sich in der Maske eines Touristen für sowjetische Infrastrukturanlagen interessierten. Der alpinistische Diskurs ideologisierte und radikalisierte sich dabei weder aus sich heraus noch infolge von parteistaatlichen Direktiven, sondern er reagierte auf eine Praxis, die weit hinter den vorgegebenen Leitbildern zurückblieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte eine abermalige Wende. Nun schrieb man sich in die Rhetorik des Kalten Krieges ein und begab sich in einen internationalen Wettbewerb um die Erstbesteigung von Achttausendern.

Die touristische Massenorganisation der Alpinisten entstand in den dreißiger Jahren ebenso wenig als Folge von parteistaatlichen Anweisungen, sondern aufgrund der Initiative einiger Enthusiasten. Auch die Tourismusbewegung sprach bolschewistisch, doch das Leitbild eines proletarischen Tourismus wurde nicht von oben vorgegeben, sondern bildete sich schrittweise und in Wechselwirkung mit der bereits bestehenden Praxis heraus. Während ein Teil der Akteure die „Proletarisierung“ des Alpinismus aktiv vorantrieb, ging es anderen nur darum, die eigenen Anliegen in die politisch korrekte Sprache der Zeit zu kleiden. Ab Mitte der dreißiger Jahre kamen vermehrt politische Leiter in die Basislager. Sie waren für die ideologische Instruktion der Gäste zuständig und organisierten Vorträge, gemeinsames Zeitunglesen oder Unterhaltungen über die Vergangenheit und Gegenwart des Sozialismus. Gleichzeitig versuchten sie, die Tourismusbewegung unter staatliche Kontrolle zu bringen, indem sie unter dem Schlagwort der „Unfallfreiheit“ nur noch angemeldete Touren zuließen.

Der „Große Terror“ erfasste auch die Alpinisten. In den Jahren von 1936 bis 1938 wurde die alte Bergsteigerelite des Landes fast vollständig vernichtet. Eine neue Generation übernahm deren Funktionsposten. Eva Maurer argumentiert überzeugend, dass paradoxerweise sowohl die staatliche Gewalt als auch der zeitgleich einsetzende Diskurs über den unfallfreien Alpinismus den als total konzipierten Zugriff des Staates auf den Einzelnen verdeutlichen. Der Sicherheitsdiskurs sollte verhindern, dass der Einzelne selbst darüber bestimmte, ob er sein Leben in den Bergen aufs Spiel setzte. Diese Entscheidung kam dem Individuum nicht mehr zu, sondern nur noch dem Staat. Hier lag ein signifikanter Unterschied zum deutschen Alpinismus jener Jahre, der die Todesverklärung der nationalsozialistischen Kriegsromantik übernahm und verunglückte Bergsteiger als Opfer für die Sache feierte.

Insgesamt demonstriert Eva Maurer in ihrer Studie auf eindrucksvolle Art und Weise, wie ein sportgeschichtlicher Zugang neue Erkenntnisse zutage fördern kann, die weit über den behandelten Gegenstand hinausgehen. Die sowjetischen Alpinisten waren keine bloßen Objekte stalinistischer Herrschaft, sondern traten stets als Handelnde in eigener Sache auf. Gerade deshalb zeigt ihr Beispiel, dass es den Bolschewiki gelungen ist, die Bevölkerung nicht nur zu beherrschen, sondern die Menschen vielmehr dazu zu bringen, ihre ideologischen Kategorien auf alle Lebensbereiche zu übertragen und in ihrer Sprache darüber zu reden.

Jörg Ganzenmüller, Jena

Zitierweise: Jörg Ganzenmüller über: Eva Maurer: Wege zum Pik Stalin. Sowjetische Alpinisten, 1928–1953. Zürich: Chronos, 2010. 496 S., 17 Abb., 4 Ktn., Tab. ISBN: 978-3-0340-0977-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Ganzenmueller_Maurer_Wege_zum_Pik_Stalin.html (Datum des Seitenbesuchs)

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