Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 2, S. 334-335

Verfasst von: Klaus-Peter Friedrich

 

Sara Berger: Experten der Vernichtung. Das T-4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg: Hamburger Edition, 2013. 622 S., 23 Abb., 10 Tab. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-268-4.

„Daß ich in der letzten Zeit etwas wenig geschrieben [habe,] weiß ich, konnte dies aber nicht ändern, da die letzten Warschauer Wochen von einer Hetze begleitet waren, die unvorstellbar war, ebenso hat hier in Treblinka ein Tempo eingesetzt, das geradezu atemberaubend ist.“ (Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 9: Polen: Generalgouvernement August 1941 bis 1945. Bearb. von Klaus-Peter Friedrich. München 2014, Dok. 105, S. 357.) Mit diesen Worten wandte sich der aus Innsbruck gebürtige Arzt Irmfried Eberl kurze Zeit nach Beginn seiner Tätigkeit als erster Kommandant des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Treblinka an seine Frau Ruth in Berlin. Davor war er Leiter der „Euthanasieanstalten“ Brandenburg und Bernburg gewesen, auch hatte er am „Euthanasie“-Gesetz mitgewirkt.

So wie er hatten fast alle der rund 120 Deutschen und Österreicher, die zwischen 1941 und Ende 1943 im Rahmen der „Aktion Reinhardt“ in den Vernichtungslagern im Generalgouvernement (GG) eingesetzt wurden, Erfahrungen mit der massenhaften Ermordung von Menschen gesammelt. Diese nutzten sie, um die Tötungszentren und Gaskammern zu entwerfen und den technischen Ablauf beim alltäglichen Massenmord zu planen. Sie verpflichteten sich ihrer Sache, dienten ihr als Aufseher und organisierten die von außen herbeigeholten Wachmannschaften. Nicht wenige gingen bei ihrem Handeln über das Morden auf Befehl hinaus, quälten und töteten auch aus reiner Willkür, aus Sadismus. Die seit den 1930er Jahren in der „Aktion T4“ geschulten Männer wurden beim Prozess der systematischen Ermordung der europäischen Juden zu stets gefragten Experten der Vernichtung.

In ihrer Studie, die bis 2011 als Dissertation an der Ruhr-Universität in Bochum entstand, beschreibt Sara Berger das enge Geflecht der persönlichen Beziehungen dieser NS-Täter, befasst sich mit Gehorsamsbereitschaft und Gruppendruck, den jeweiligen Handlungsspielräumen ebenso wie mit strukturellen Gegebenheiten und sich aus der Situation ergebenden Dynamiken. Grundlage sind vor allem die von der Verfasserin umfassend und sorgfältig ausgewerteten Akten der bundesdeutschen Ermittlungs- und Gerichtsverfahren aus dem Bundesarchiv und aus weiteren Staats- und Landesarchiven.

Den Aufbau des T4-Reinhardt-Netzwerks datiert Berger zwischen Oktober 1941 und Juni/Juli 1942; bei der Errichtung des Vernichtungslagers Bełżec nahm es Gestalt an, nicht zuletzt durch den ersten Kommandanten Christian Wirth. Ausgeweitet wurde das Netzwerk dann im Frühjahr 1942 beim Aufbau des Vernichtungslagers Sobibór, ebenfalls im Distrikt Lublin des GG gelegen. Im Distrikt Warschau entstand dann unter Eberl und dem Bauleiter und Konstrukteur Richard Thomalla das Tötungslager Treblinka. Im zweiten Halbjahr 1942 erfolgte eine Konsolidierung, verbunden mit der Optimierung der Lagerstrukturen und der „Transportabfertigung“ – hin zu einem perfektionierten Einsatz des Gasmords. Dieser war nicht zuletzt der Eigeninitiative der Täter vor Ort zuzuschreiben (S. 97).

Berger beschreibt darüber hinaus die Reaktionen auf Heinrich Himmlers Vernichtungsbefehl vom 19. Juli 1942 und den Mechanismus der „Werterfassung“, durch den die Opfer vor und nach ihrer Ermordung beraubt wurden. Doch blieben diese Vorgänge – trotz aller Kontroll- und Zentralisierungsversuche – von Diebstahl und Korruption geprägt.

1943 erreichte das T4-Reinhardt-Netzwerk den Höhepunkt seiner Macht. Das erste Lager wurde liquidiert, seine Spuren getilgt, und auch in Sobibór und in Treblinka gingen die NS-Täter dazu über, die Leichen sämtlich zu verbrennen. Berger widmet sich sodann den kollaborierenden Wachmannschaften (sog. Trawniki-Männer) und den in eigenen Kommandos zusammengefassten ausgesuchten Häftlingen („Arbeitsjuden“). Sie beschränkt sich aber nicht auf das Innenleben der Tötungseinrichtungen, sondern erklärt auch, auf welche Weise das Geschehen in diesen Lagern mit dem deutschen Besatzungsapparat verbunden war und inwieweit die lokale nicht-reichsdeutsche Bevölkerung daran Anteil hatte. Zu Jahresbeginn 1943 erfuhr das Deportationsnetz eine europaweite Ausdehnung. Zur gleichen Zeit spielte Zwangsarbeit in den – vorwiegend im Distrikt Lublin gelegenen – SS-Arbeitslagern und SS-(Rüstungs-)Betrieben eine immer größere Rolle. Die Aufstände in Treblinka im August und in Sobibór im Oktober 1943 leiteten das Ende der Lager ein. Danach waren die „T4-Reinhardt-Männer im ,Adriatischen Küstenland‘“ (S. 278) tätig.

Im analytischen Schlussteil stellt die Verfasserin Sozial- und Milieustrukturen des von ihr betrachteten Täterkollektivs dar: ihre Altersstruktur, geografische Herkunft, poli­ti­sche Sozialisation, ihren beruflichen Hintergrund, ihre familiäre Situation, ihre konfessionelle Haltung, das Verhältnis von Freiwilligkeit und Zwang, die antisemitischen Prägungen, materiellen Anreize, Kameradschafts- und Gruppendruck, Formen der Gewalttätigkeit. Auf dieser Grundlage entwirft Berger eine Typologie der Täter, ehe sie dazu übergeht, ihre strafrechtliche Verfolgung nachzuzeichnen; in den Verhandlungen neigten sie dazu, sich als bloße kleine Befehlsempfänger darzustellen. Berger schließt mit Ausführungen zur historiografischen, kulturellen und erinnerungspolitischen Aufarbeitung. Das Fazit rückt die fatale Rolle der in den NS-Vernichtungslagern eingesetzten Täter in den Mittelpunkt. Berger kommt zu dem Schluss, „dass auch die unteren Entscheidungsebenen, die Exekutoren und die vermeintlich kleinen Chargen, reale Möglichkeiten der Einflussnahme […] hatten und diese auch nutzten. […] Sie führten Beschlüsse herbei, die letztlich zur Folge hatten, dass immer größere Bevölkerungsgruppen in ganz Europa zum Opfer des nationalsozialistischen Massenmords wurden“ (S. 397).

Im Anhang finden sich Kurzbiografien der T4-Reinhardt-Männer und eine ausführliche Liste der Deportationen in die drei Vernichtungslager, die für die künftige Forschungsarbeit gute Dienste leisten werden. Schade nur, dass ein Großteil der polnischen Forschungsliteratur von Berger nicht berücksichtigt wurde. Autorin und Verlag haben leider auch darauf verzichtet, dem Werk wenigstens ein Orts- und Personenregister beizufügen.

Bergers fundierte Studie ermöglicht ebenso aufschlussreiche wie erschütternde Einblicke in den Geschehensablauf in den NS-Vernichtungslagern. Zugleich arbeitet sie Motive und Wirkungen des Handelns sowohl der Einzelnen als auch des Täterkollektivs heraus, und sie gibt eine schlüssige Antwort auf die Frage nach deren Bestrebungen und ihrem Verantwortungsbereich beim Judenmord in den Lagern Bełżec, Sobibór und Treblinka.

Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

 

Zitierweise: Klaus-Peter Friedrich über: Sara Berger: Experten der Vernichtung. Das T-4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka. Hamburg: Hamburger Edition, 2013. 622 S., 23 Abb., 10 Tab. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-268-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Friedrich_Berger_Experten_der_Vernichtung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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