Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 521-522
Verfasst von: Jan Foitzik
Nikolaus Lobkowicz / Leonid Luks / Alexei Rybakov, Andreas Umland (Hrsg.): Die deutsche Frage im Ost-West-Geflecht. Zum 20. Jahrestag der Öffnung der Berliner Mauer. Köln [usw.]: Böhlau, 2010. 199 S., Tab. = Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 14 (2010), 1. ISBN: 978-3-415-20518-8.
Die Hälfte des Heftes ist acht Vorträgen gewidmet, die im November 2009 auf einer Eichstätter internationalen Konferenz über deutsch-russische Beziehungen gehalten wurden. Weit gefasst ist der Zeitrahmen von 1870 bis 1990, disparat erscheint auch das Themenfeld: Gerhard Wettigs Beitrag über die westdeutsche „neue Ostpolitik“ analysiert das deutschlandpolitische Konzept Egon Bahrs. Roland Cerny-Werner von der Salzburger Universität untersucht das gleichermaßen vorsichtige wie pragmatisch-realistische Agieren der vatikanischen Diplomatie nach den bundesdeutschen Verträgen mit Moskau und Warschau (1970) und die kirchenrechtliche Regelung für die katholischen Sprengel in der DDR. Den durch den Konflikt der katholischen Kirche Polens mit dem Regime in den 1960er Jahren ausgelösten Diskussionen der polnischen unabhängige Presse über die „deutsche Einheit“ in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre schenkt Leonid Luks seine Aufmerksamkeit. Er konstatiert eine „Ernüchterung“ in der informellen polnischen Debatte nach Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981, die er als Reaktion auf die mangelnde westdeutsche Rezeption bewertet. Damit eröffnet Luks einen neuen Blick auf die „deutschlandpolitische“ Abstinenz der Solidarność, die sowohl in Polen als auch in Deutschland für Irritationen sorgte. In der Politik sei jedoch die Wirkung entscheidend, lautet das Motto des Erlebnisberichts von Horst Teltschik über die Deutschlandpolitik Kohls in den letzten Monaten des Jahres 1989 und den Anfangsmonaten des folgenden Jahres. Der mit Spannung geladene Bericht enthält zahlreiche Details, die man in Akten vergeblich sucht. Insbesondere fällt das Bild der agilen sowjetischen Deutschlanddiplomatie auf, das sich deutlich von der langatmigen Besserwisserei der sowjetischen DDR-Diplomatie abhebt. Beruhigend wirken daher die von Tatiana Timofeeva vorgestellten Ergebnisse russischer Meinungsumfragen zum deutsch-russischen Verhältnis: 58 % der Befragten wussten 2009 nicht, was die „Berliner Mauer“ war.
„Erinnerungspolitik“ thematisiert auch Jürgen Zarusky in seinem Aufsatz über Die historische Debatte über die Stalin-Note im Lichte sowjetischer Quellen. Im einleitenden Satz schreibt er, dass in der Note „die Schaffung eines vereinten, souveränen, neutralen und demokratisch verfaßten Deutschlands […] vorgeschlagen wurde“. Von einer „Souveränität des deutschen Volkes“ war aber nur im Noten-Entwurf vom 6. März 1952 die Rede, die Endfassung vom 8. März 1952 berührte das Thema der Souveränität nicht, nachdem Molotov diese Passage aus dem Entwurf herausgestrichen hatte. Ob er wusste, dass nach damaligem Völkerrecht – auch nach sowjetischer Auffassung – nur Staaten und nicht Völkern äußere Souveränität zustand, oder aber die innere Souveränität, also das Legalitätsprinzip gemeint war, ist schon deshalb nachrangig, weil der damalige US-Botschafter in Moskau gerade diesen Schwachpunkt gezielt ansprach und vom amtierenden sowjetischen Außenminister Vyšinskij nur eine Beleidigung zur Antwort erhielt.
Zarusky hat anhand der Literatur recht minutiös den Glaubenskrieg der Historiker nachgezeichnet und eindrucksvoll belegt, dass in der Zeitgeschichtsschreibung die „verpassten Chancen“ proportional zum zeitlichen Abstand vom historischen Ereignis wachsen. Dass 1951/52 weder die sowjetische Diplomatie noch der mystifizierte „Geheimdienst“ hinter der Initiative standen und sogar ihre politischen Gefahren erkannten, haben inzwischen russische Archive preisgegeben. In Moskau wusste man damals auch, dass in der DDR „ein bedeutender Teil der Arbeiterschaft“ und der SED-Mitglieder „nicht an die Möglichkeit der Einheit Deutschlands auf friedlichem Weg glaubte“. Und dass schließlich „aus marxistischer Sicht […] ein bürgerliches Deutschland niemals friedliebend“ sein kann, gaben 1953 Malenkov, Molotov, Bulganin und Chruščev zu Protokoll … Da sich die Sowjetunion bis 1955 im Kriegszustand mit Deutschland befand und in der DDR real bis 1955 und formal bis 1957 sowjetisches politisches Strafrecht angewandt wurde, bestand das eigentliche wirkungsgeschichtliche Geheimnis der „Stalin-Note“ darin, dass sie die Preisgabe der DDR als politische Alternative denkbar erscheinen ließ und diese außerdem mit dem Namen Stalins ‚legitimierte‘. Als geschichtspolitisches Konstrukt verdient sie zweifellos Interesse, denn Historiker können auch Geschichte machen.
Andere „verpasste Chancen“ des „deutschen Russland-Komplexes“ (Gerd Koenen) streift der Vortrag von Vladimir Kantor über Fedor Stepun über Deutschland. Eine gewisse „mystische Dunkelheit“ entsteht beim Lesen aufgrund der säkularisierenden Wirkung der Vergesslichkeit, weil das Erlösungsversprechen von Slawophilie, Orthodoxie und Protestantismus nur noch Fachhistoriker ‚erinnern‘ können. Einen ‚katholischen‘ Kontrapunkt setzt Marek Wittbrot mit seinem Essay über Die Berliner Mauer, Johannes Paul II., Höhen und Tiefen des europäischen Geistes. Sicherlich handelt es sich um Zufälle, doch sie machen neugierig: Nicht nur auf die informativen Berichte von Nikolaus Lobkowicz und Leonid Luks über Entstehung und Geschichte des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien (ZIMOS) der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, sondern auch auf das Konzept einer Katholischen Universität und nach dem katholischen Wissenschaftsverständnis in einer religiös und kulturell tief zerklüfteten historischen Landschaft.
Zitierweise: Jan Foitzik über: Nikolaus Lobkowicz / Leonid Luks / Alexei Rybakov, Andreas Umland (Hrsg.): Die deutsche Frage im Ost-West-Geflecht. Zum 20. Jahrestag der Öffnung der Berliner Mauer. Köln [usw.]: Böhlau, 2010. 199 S., Tab. = Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 14 (2010), 1. ISBN: 978-3-415-20518-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Foitzik_Lobkowicz_Forum_Die_deutsche_Frage.html (Datum des Seitenbesuchs)
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