Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 4, S. 578–580
Dietmar Dahlmann, Anke Hilbrenner, Britta Lenz (Hrsg.) Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa – Die Zweite Halbzeit. Klartext Verlag Essen 2008. 400 S., Abb. ISBN: 978-3-89861-854-0.
In den vergangenen Jahren ist die Geschichte des Sports auf der Grundlage sozial- und kulturhistorischer Fragestellungen immer deutlicher in den Fokus des Interesses der Geschichtswissenschaft gerückt. Einerseits ist diese Entwicklung aus der Erkenntnis erwachsen, dass sich in der Geschichte des Sports ein Stück Alltag des modernen Individuums widerspiegelt. Durch den Sport werden aber auch Einflüsse und Wechselwirkungen mit Blick auf Wirtschaft, Recht, Politik, Ethnizität, Identität sowie Körper und Geschlecht auf nationaler und internationaler Ebene sichtbar gemacht. Als ein symptomatisches Beispiel kann hier die Geschichte des Fußballs angeführt werden: In den vergangenen Jahren sind z.B. mehrere sporthistorische Studien über deutsche Fußballvereine erschienen. Gerade aktuell veröffentlicht ist die vom Berliner Zeithistoriker Daniel Koerfer fundiert verfasste Studie „Hertha unter dem Hakenkreuz. Ein Berliner Fußballclub im Dritten Reich“.
In der Osteuropaforschung hat die Geschichte des Sports, zumal die Geschichte des Fußballs, nach wie vor keinen festen Platz; eine systematische Aufarbeitung mithilfe reflektierter Methoden fehlt ebenso wie eine feste institutionelle Anbindung. Trotzdem ist in den letzten Jahren Bewegung in die noch in den Anfängen steckende sporthistorische Osteuropaforschung gekommen. In diesem Zusammenhang kann auf das Projekt an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg mit dem Titel „Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Sports und der Körperkultur in der Sowjetunion“ unter der Leitung von Nikolaus Katzer und das von Anke Hilbrenner erfolgreich beantragte DFG-Projekt „Integration und Desintegration: Sozial- und Kulturgeschichte des osteuropäischen Sports im internationalen Vergleich“ der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn verwiesen werden.
Die Bonner Osteuropahistoriker/innen Dittmar Dahlmann, Anke Hilbrenner und Britta Lenz haben jüngst den zweiten Band (die „Zweite Halbzeit“) ihrer als Trilogie geplanten Darstellung der Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa herausgegeben. Ihr Ziel ist es, gemeinsam mit den zwölf weiteren Autoren und Autorinnen im Rahmen dieser drei Bände „Anregungen und Anstöße zu geben“ bzw. „eine solide Basis für die Forschung zu schaffen, von der aus dann weitere Untersuchungen erfolgen können“.
Im Vergleich zum ersten Band ist der Anhang des zweiten Bandes – vor allem Fußballfans wird es freuen – durch ein Vereinsregister ergänzt worden. Lag der Schwerpunkt des ersten Bandes eher auf dem Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg, so ist im zweiten Band die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und die Zwischenkriegszeit, und hier speziell jüdischer Fußball sowie die internationalen Beziehungen des ost- und südosteuropäischen Fußballs, in den Fokus gerückt. Drei Beiträge analysieren die entsprechende Entwicklung in Russland bzw. der Sowjetunion, jeweils zwei Studien befassen sich mit Polen, Rumänien und dem jüdischen Fußball, jeweils eine Analyse findet man über die Geschichte des Fußballs in Bulgarien und in Lettland und allein vier Artikel über die internationalen Beziehungen.
Im ersten Teil über die russische bzw. sowjetische Fußballgeschichte ragen zwei Artikel heraus. Ekaterina Emeliantseva bestätigt in ihrem Beitrag über die Fußballspiele und ihr Publikum im spätzaristischen Russland, wie auch einige andere Artikel bereits im ersten und jetzt auch im zweiten Band, dass der Fußballsport in Ost- und Südosteuropa, zumindest in seinen Anfängen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, eher ein Sport der bürgerlichen Mittelschichten als der Arbeiterschaft war. Die Autorin belegt auf der Grundlage von Presseauswertung, dass entgegen der gängigen Meinung das Fußballspiel „weder eine demokratisierende Wirkung auf die russische Gesellschaft […] noch eine Verstärkung der Klassengegensätze“ entfaltet oder eine Europäisierung nach sich gezogen hat. Alexander Chertov analysiert in seinem fundierten Artikel das Fußballgeschehen während der Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg mit dem Schwerpunkt auf der später als „Blockadespiel“ bekannt gewordenen Partie Dinamo Leningrads im Mai 1942. Dabei macht er deutlich, dass dieses Spiel – ähnlich wie das sog. „Todesspiel“ in Kiev oder die Fußballspiele im KZ Theresienstadt – propagandistisch ausgenutzt und mythisiert wurde.
Aufschlussreich sind auch die beiden Beiträge zum polnischen Fußballsport. Britta Lenz befasst sich mit den Anfängen des polnischen, mit den als „Heiliger Krieg“ umschriebenen Traditionsderbys der beiden Krakauer Vereine Wisła und Cracovia. Dabei zeigt sie geschickt die spaltende, Gewalttätigkeit und Antisemitismus fördernde, aber auch die integrierende und fortschrittsfördernde Wirkung des polnischen Fußballsports am Anfang des 20. Jahrhunderts. Andreas Prokopf beschäftigt sich dagegen mit aktuellen Fußballhooligans in Polen zwischen Papsttreue und Antisemitismus. Auf der Grundlage einer soziologischen Betrachtung spürt er den Gründen von Gewaltbereitschaft, Antisemitismus und Fremdenhass in polnischen Fußballstadien nach. Nach Angaben des Autors reagieren Politik und Vereinsführungen auf den Hooliganismus vorwiegend mit Ausgrenzungsversuchen. In diesem Zusammenhang hätte man gerne mehr darüber erfahren, ob es seitens des polnischen Fußballverbandes und der Politik integrierende Projekte oder Initiativen gibt, um diese Probleme langfristig in den Griff zu bekommen. Besonders hervorzuheben ist Anke Hilbrenners Artikel über ostjüdische Fußballer in der jüdischen Turnbewegung. Durch ihre genaue Analyse arbeitet sie heraus, dass gerade die osteuropäischen Juden als Pioniere bei der Etablierung des modernen ‚englischen‘ Sports Fußball in Osteuropa angesehen werden können. Damit gelingt es ihr, traditionelle Geschichtsbilder wie das von der ‚Rückständigkeit‘ der ‚osteuropäischen jüdischen Massen‘ am Anfang des 20. Jahrhunderts in Frage zu stellen.
Im letzten Teil des Bandes über die internationalen Beziehungen ragt von vier Artikeln insbesondere der Beitrag von Dittmar Dahlmann über das Fußball-Länderspiel Sowjetunion gegen die Bundesrepublik Deutschland Ende August 1955 im Moskauer Dinamo-Stadion heraus. Mit Bezug auf den Umstand, dass die Sowjetunion erst am 25. Januar 1955 den Kriegszustand mit Deutschland für beendet erklärt hatte und Bundeskanzler Konrad Adenauer von sowjetischer Seite zu einem Staatsbesuch nach Moskau im September 1955 eingeladen worden war, macht der Autor anhand dieses von beiden Seiten instrumentalisierten und mit Spannung erwarteten Spiels die engen Zusammenhänge zwischen Sport und Politik deutlich.
Trotz einiger neuer Aspekte und Erkenntnisse ist es den Autorinnen und Autoren nicht gelungen, ein rundes Gesamtbild zu präsentieren. Wie im Herausgebervorwort konstatiert wird, liegt dies nicht nur an der vielschichtigen Thematik und der geringen Zahl qualifizierter Forscherinnen und Forscher, sondern auch an der problematischen Quellenlage.
Impulse und Motivation für weitere wissenschaftliche Studien haben die Autorinnen und Autoren jedoch allemal gegeben. Auf den dritten Band, d.h. – um im Fußballjargon zu bleiben – auf die Verlängerung, kann man ebenso gespannt sein wie auf die Fußball-Europameisterschaft 2012. Sie wird in dem genannten Jahr in Polen und der Ukraine stattfinden.
Kristina Exner-Carl, Bordesholm
Zitierweise: Kristina Exner-Carl über: Dietmar Dahlmann, Anke Hilbrenner, Britta Lenz (Hrsg.) Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa – Die Zweite Halbzeit. Klartext Verlag Essen 2008. Abb. ISBN: 978-3-89861-854-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 578–580: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Exner-Carl_Dahlmann_Geschichte_des_Fussballs.html (Datum des Seitenbesuchs)