Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 4, S. 586–587
Yohanan Petrovsky-Shtern Jews in the Russian Army, 1827–1917. Drafted into Modernity. Cambridge University Press Cambridge 2009. XVI, 307 S., Abb. ISBN: 978-0-521-51573-3.
Im kollektiven Gedächtnis des Judentums gehört der Dienst russischer Juden in der Armee des Zaren zu jenen Erfahrungen, die in der Regel als eine Leidensgeschichte erinnert werden – eine Deutung, die in der Historiographie zu diesem Thema nicht selten übernommen worden ist. Mit seiner Monographie „Jews in the Russian Army, 1827-1917. Drafted into Modernity“ legt der in Amerika lehrende Historiker Jochanan Petrovskij-Štern nun eine alternative Interpretation der Geschichte der Juden in den russischen Streitkräften vor. Er ist darum bemüht, die Rekrutierung russischer Juden nicht nur in einem breiteren europäischen Kontext zu sehen, sondern auch den „imperialen Kontext“ innerhalb des Zarenreiches zu rekonstruieren und dabei gleichzeitig die Entwicklung der jüdischen Gemeinde zu berücksichtigen.
Die Studie setzt mit dem Jahr 1827 ein, als Nikolaus I. das Statut erließ, die russischen Juden für den Armeedienst zu rekrutieren (Kapitel 1). Petrovskij-Štern begreift das Statut als ein Projekt im Geist der Aufklärung, welches intendierte, die jüdischen Untertanen für den Staat „nützlich“ zu machen. Er sieht darin eine Aufwertung des Status der Juden durch den Zaren: Sie waren ein integraler Bestandteil seines staatlichen Modernisierungsprojektes. In der Wahrnehmung der Juden des Reiches hingegen war der Rekrutierungsbefehl vor allem ein Angriff auf ihre Religion.
In einem zweiten Schritt macht der Autor deutlich, wie sich das Verhältnis zwischen der Armee und den russischen Juden wandelte, oder vielmehr, wie der Militärdienst den „russischen Juden“ überhaupt erst schuf (Kapitel 2). Er analysiert die Wechselbeziehung zwischen dem russischen Militär und den jüdischen Soldaten, die er als einen ständigen Aushandlungsprozess begreift, der sowohl die Juden als auch das Militär entscheidend veränderte. Die Wehrpflicht war demnach ein Impetus für die religiöse und soziale Selbstorganisation der Juden. Auf Initiative jüdischer Soldaten entstanden z.B. neue Synagogen speziell für jüdische Rekruten. Gleichzeitig erhielten aus dem Wehrdienst entlassene jüdische Soldaten das Recht, auch außerhalb des Ansiedlungsrayons sesshaft zu werden – auf diese Weise entwickelten sich jüdische Gemeinden auch im Inneren des Russländischen Reiches. Durch die Armee wurden Juden aus ihrer traditionellen Lebenswelt herausgerissen; ihre jüdische Identität wurde transformiert. Das Militär war seinerseits in vielen Fällen bereit, die jüdischen Lebensformen seiner Rekruten nicht nur zu tolerieren, sondern sogar aktiv zu beschützen, indem es ihnen z.B. Gebetshäuser zur Verfügung stellte.
Einen wichtigen Aspekt bildet die Erfahrung jüdischer Kinder in den Kantonistenschulen (Kapitel 3). Petrovskij-Štern argumentiert, dass es sich auch hier nicht um eine spezifisch jüdische Leidensgeschichte gehandelt habe, sondern dass im Gegenteil die jüdischen Schüler dasselbe Erziehungssystem und dasselbe militärische Training durchliefen wie ihre christlichen Kameraden. Aus diesem System gingen bis zum Ende der Kantonistenschulen 1859 russischsprachige Juden hervor, die sich als loyale Soldaten des Zaren verstanden.
Eine wichtige Zäsur für die Beziehungen zwischen den Juden und der imperialen Armee ist für Petrovskij-Štern das Jahr 1874, als im Zuge der Reformen Alexanders II. die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde (Kapitel 4). Er identifiziert dabei das Militär als die treibende liberale Kraft. Dass diskriminierende Maßnahmen gegenüber Juden dennoch ihren Eingang in das Gesetz von 1874 fanden, sei dem konservativen Innenministerium zuzuschreiben. Trotz dieser Einschränkungen hätten aber die jüdischen Eliten – anders als 1827 – die Wehrreform als den Beginn ihrer Emanzipation gedeutet. Der Wehrdienst in der imperialen Armee war nicht mehr ein Angriff auf ihre Lebenswelt, sondern galt ihnen, im Gegenteil, als vorteilhaft, da sie mit Verweis auf die Wehrpflicht Rechte für sich einfordern konnten.
Als verpasste Chance deutet Petrovskij-Štern dementsprechend den Russisch-Türkischen Krieg von 1877/78, bei dem die jüdischen Soldaten – von der liberalen russischen Presse keineswegs unbemerkt – ihre Bereitschaft zur völligen Integration in die russische Gesellschaft bewiesen hätten. Dass sich dennoch seit den späten siebziger Jahren im Kriegsministerium ein aggressiver Antisemitismus ausbreitete, schreibt der Autor vor allem dem Einfluss des Innenministeriums und antisemitischen Publizisten wie Jakov Brafmann und Vsevolod Krestovskij zu, welche die militärische Elite zu ihren Lesern zählten (Kapitel 5). Die Wurzeln des Antisemitismus in der Armee lägen demnach nicht im militärischen, sondern im zivilen Raum.
Die Studie schließt mit der Darstellung der Situation jüdischer Soldaten am Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zur Februarrevolution (Kapitel 7). Dieser Zeitraum steht auch für die jüngere Historiographie in der Regel im Zeichen einer rapiden Verschlechterung der russisch-jüdischen Beziehungen. Ohne die antijüdischen Maßnahmen des Militärs vor und nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Frage zu stellen, betont Petrovskij-Štern, dass es auch hier andere Momente gegeben habe: Trotz des staatlich verordneten Antisemitismus bei der Elite des Kriegsministeriums hätten sich lokale Kommandeure mehrheitlich positiv über jüdische Soldaten geäußert. Diese hätten sich in der Regel als russische Patrioten gezeigt.
Mit seiner Analyse ist Petrovskij-Štern eine überzeugende Neuinterpretation der jüdischen Begegnung mit der russischen Armee gelungen. Durch die breite Quellenbasis, die eine Fülle von Archivmaterialien, die einschlägigen jüdischen wie russischen Publikationen, eine Auswertung statistischer Daten sowie private Korrespondenzen und Memoiren umfasst, vermag er sich seinem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu nähern. Auf der Makroebene wird die statistisch erfassbare Resonanz der Juden auf den Rekrutierungsbefehl nachgezeichnet, und auf der Mikroebene werden die persönlichen Erfahrungen einzelner Soldaten und Regimenter in kleineren case studies dargestellt. Die Analyse russisch- wie jiddischsprachiger Publikationen erhellt unterschiedliche Blickweisen auf den Gegenstand, und dabei wird letztlich deutlich, dass es nicht eine „russische“ und eine „jüdische“ Perspektive gegeben hat, sondern dass der Diskurs über den Armeedienst der Juden stets ein pluralistischer war. In Ansätzen bietet die Studie eine vergleichende Perspektive auf die Erfahrung nicht-jüdischer, also muslimischer, protestantischer und orthodoxer Soldaten und kann so überzeugend die Vorstellung einer singulären jüdischen Erfahrung relativieren. Nicht thematisiert wird allerdings die sich aufdrängende Frage, warum im jüdischen Gedächtnis der Armeedienst als traumatisches Ereignis erinnert wird, obwohl die Geschichte auch von positiven Erfahrungen zeugt. Nichtsdestotrotz ist die Lektüre der Studie empfehlenswert, die zudem durch ihre klare Sprache und eine pointierte Argumentation besticht.
Franziska Davies, München
Zitierweise: Franziska Davies über: Yohanan Petrovsky-Shtern Jews in the Russian Army, 1827–1917. Drafted into Modernity. Cambridge University Press Cambridge 2009. XVI. ISBN: 978-0-521-51573-3, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 586–587: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Davies_Petrovsky_Shtern_Jews.html (Datum des Seitenbesuchs)