Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 522-524

Verfasst von: Matthias E. Cichon

 

Andrew Demshuk: The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory, 1945–1970. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2012. XXII, 302 S., 10 Abb., 2 Ktn. ISBN: 978-1-107-02073-3.

Knapp 20 Prozent der deutschen Nachkriegsbevölkerung setzte sich aus Flüchtlingen und Vertriebenen der ehemaligen Ostgebiete zusammen. Aller revisionistischen Rhetorik der Vertriebenenfunktionäre zum Trotz stellten diese jedoch kein Sicherheitsrisiko für die bundesrepublikanische Ordnung dar. Auch nicht, als die sozial-liberale Koalition mit den Ostverträgen (1970) die Oder-Neiße-Grenze faktisch anerkannte. In der Vergangenheit hat die Forschung diese Apathie der Vertriebenen vorwiegend mit den sich wandelnden ökonomischen und außenpolitischen Rahmenbedingungen im Kalten Krieg erklärt. Lastenausgleich und Blockbildung hätten das Interesse an den Ostgebieten schwinden lassen. Lediglich in den Vertriebenenverbänden habe sich ein gesellschaftlich zunehmend marginalisierter, revisionistischer Kern erhalten.

Dieser Ansicht tritt der US-amerikanische Historiker Andrew Demshuk mit seiner an der Universität Illinois vorgelegten Dissertation entgegen. Demshuk sieht in dem Des­interesse vieler Vertriebener an Grenzrevisionen in erster Linie eine Folge des von diesen geführten Erinnerungsdiskurses. Zugleich verwahrt er sich gegen eine monolithischen Betrachtung des Vertriebenenmilieus und versucht große inhaltliche Differenzen zwischen Funktionären und Mitgliedern aufzuzeigen. Der Verfasser konnte sich in der Vergangenheit mit zahlreichen Veröffentlichungen zu Schlesien sowie den schlesischen Vertriebenen profilieren und bleibt auch in dieser Publikation seinem Forschungsobjekt treu. Anderen Vertriebenengruppen und Vertreibungsgebieten berücksichtigt er nicht, sodass der Titel des Werkes ein wenig irreführend ist. Gleichwohl sollen und dürfen die Schlesier in diesem Kontext als pars pro toto für die östlichen Reichsprovinzen gesehen werden.

Das Herzstück der Betrachtungen bildet dabei die These von der Existenz zweier differierender Heimatbilder, die maßgeblichen Anteil am Desinteresse der Vertriebenen an Rückkehr und Grenzrevision gehabt hätten. Zum einen habe sich die Vorstellung einer Heimat der Erinnerung (Heimat of Memory) herausgebildet, welche die Vergangenheit bewusst glorifizierte und die losgelöst von den real existierenden Orten der Gegenwart war. Zum anderen habe sich aber auch das Konzept einer physisch gewandelten Heimat (Heimat transformed) entwickelt, die nach Flucht, Vertreibung und polnischer Neuansiedlung zu einem fremden, mitunter lebensfeindlichen Ort geworden sei. Das sukzessive Auseinanderdriften der beiden Sichtweisen habe schon früh viele Schlesier mit der Aussichtslosigkeit einer Rückkehr in die zunehmend polnischer werdende (transformierte) Heimat konfrontiert und zu einer verstärkten Zuwendung zur erinnerten Heimat geführt.

Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel und widmet sich, meist chronologisch, den verschiedenen Themenbereichen der Vertriebenenkultur. Diese reichen von den Agenden der Verbände über Heimattreffen bis hin zu privaten Reisen in die einstigen Wohnorte. Mit detaillierter Kenntnis ist der erste Abschnitt zur Vergangenheit der Deutschen in Schlesien geschrieben. Auf engem Raum schafft es Demshuk, der vielschichtigen Geschichte des Landes, gerade auch mit Hinblick auf den Nationalitätenkonflikt in Oberschlesien, gerecht zu werden. In den darauffolgenden Kapiteln erläutert der Verfasser anhand eines umfangreichen Quellenkorpus, zu dem beispielsweise auch in kleiner Auflage erschienene kirchliche Rundbriefe gehören, die Entfremdung zwischen Vertriebenen und Verbandsfunktionären. Ihren Zenit hätten die Vertriebenenverbände in den fünfziger Jahren erreicht. Als wirksame politische Plattform hätten sie jedoch nur so lange fungiert, bis durch den Lastenausgleich ökonomische Ungleichgewichte in der Gesellschaft ausgeglichen waren. Dabei wird argumentiert, dass das Gedenken an und der Wunsch nach Rückkehr in die Heimat nicht deckungsgleich waren. Auf diese Weise lasse sich die lange Lebensdauer der Landsmannschaften als Orte des Erinnerungsaustausches erklären, während genuin politische Plattformen wie der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) rasch in der Bedeutungslosigkeit verschwanden.

Demshuk zeichnet ein etwas zu manichäisches Bild einer kleinen Funktionärskaste, die faktisch ohne Rückhalt bei den Massen dastand. Als Beispiel führt er ins Feld, dass beim Schlesiertreffen 1970 nur 25.000 von 150.000 Besuchern an der politischen Kundgebung teilnahmen. Eigene Erfahrungen im Zuge der Vertreibung, Reportagen aus den Ostgebieten, sowie Briefe von in Schlesien verbliebenen Deutschen, die in weiten Kreisen zirkulierten, hätten nur allzu sehr illustriert, dass die erinnerte Heimat kaum noch Kongruenz mit der real existierenden aufwies. Gerade die verbliebenen Deutschen in Nieder- und Oberschlesien, klagten in ihren Briefen an Verwandte im Westen über „Heimatverlust“ und Entfremdung, sodass viele von ihnen die Ausreisemöglichkeiten nach dem Ende der stalinistischen Ära wahrnahmen und „nach Deutschland“ gingen. Solche Erfahrungen hätten die Aussagen der Funktionäre, dass der Osten noch immer deutsch sei, konterkariert. Dies führte dazu, dass man sich noch intensiver auf das Bild der erinnerten Heimat bezog. Zudem hätten die Städtepartnerschaften westdeutscher Städte einen Rahmen für Zusammenkünfte der Schlesier geboten und „Ersatzheimaten“ geschaffen. Überdies habe sich der Heimatbegriff langsam auch von einem einstigen geographischen Ort auf einen Personenkreis verlagert, mit dem man gemeinsame Erfahrungen teilte. Dieser Personenkreis pflegte gemeinsame „Therapiepraktiken“, zu denen neben der Edition von Bildbänden und dem Malen von Bildern auch die Heimattreffen gehörten, unabhängig davon, ob sie sich offiziell als politisch definierten oder nicht. Darüber hinaus habe auch die Zunahme der Reisetätigkeit in die Volksrepublik Polen zu einer Anerkennung des territorialen Status quo beigetragen. Diese Vielzahl an Faktoren mündete dann in der (trotzdem wehleidigen) Passivität des Gros der Vertriebenen während der „Neuen Ostpolitik“ der Regierung Brandt. Eine Welle der Empörung, wie sie von den Vertrie­benen­funktionären beschworen wurde, blieb aus. Lediglich einige Randgruppierungen, wie die Aktion Oder-Neiße, hätten die Grenzanerkennung durch (gewaltsamen) Protest zu torpedieren gesucht.

Diese Überlegungen selbst sind innovativ; gänzlich schlüssig ist die von Demshuk verfolgte Linie indes nicht. Wenn die Vertriebenentreffen primär apolitische Plattformen für den gemeinsamen Austausch und die Aufrechterhaltung der erinnerten Heimat gewesen sind, wie erklärt sich dann beispielsweise der signifikante Besucherrückgang bei den Schlesiertreffen (1967: 230.000, 1970: 150.000; S. 250)? Darüber hinaus finden sich auch kleine inhaltliche Fehler wieder. So beziehen sich die Daten zur deutschen Minderheit in Polen auf den Zensus von 2002 und nicht von 1990 (S. 261).

Insgesamt legt Demshuk dennoch eine solide, gut lesbare und neue Akzente in der Vertriebenenforschung setzende Arbeit vor, die dem Leser bislang kaum berücksichtigtes Archivmaterial vorlegt und es auf diese Weise erst ermöglicht, die untersuchte Gruppe in ihrer Pluralität wahrzunehmen.

Matthias E. Cichon, Bergkamen

Zitierweise: Matthias E. Cichon über: Andrew Demshuk: The Lost German East. Forced Migration and the Politics of Memory, 1945–1970. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2012. XXII, 302 S., 10 Abb., 2 Ktn. ISBN: 978-1-107-02073-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Cichon_Demshuk_Lost_German_East.html (Datum des Seitenbesuchs)

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