Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 60 (2012), H. 3, S. 457-458
Verfasst von: Matthias Bürgel
Valerij S. Volkov: Pervyj rektor Tret’ego Pedagogičeskogo Instituta v Petrograde. Stranicy žizni A. P. Pinkeviča. Pod obšč. red. G. A. Bordovskogo i V. A. Kozyreva. S.-Peterburg: Izdat. RGPU imeni A. I. Gercena, 2007. 583 S., Abb. ISBN: 978-5-8064-1203-2.
In Deutschland ist Al’bert P. Pinkevič (geb. 24.12.1883 bzw. 5.1.1884) vor allem durch die Arbeiten von Oskar Anweiler und Marianne Krüger-Potratz als Sowjetpädagoge und Schultheoretiker bekannt. Ausgehend von seiner Mitarbeit an der ersten „Verordnung für die Einheits-Arbeitsschule“ wurde vor allem seine Rolle als rechter Abweichler in der „zweiten Schulrevolution“ (1929–1931) erörtert. Die Hintergründe seiner späteren Verhaftung und Hinrichtung am 17. Oktober bzw. 25. Dezember 1937 blieben unerforscht. Lange galt 1939 als sein Todesjahr.
Es gibt mehrere Gründe, weshalb Pinkevič – zu verschiedenen Zeiten – kaum gewürdigt bzw. absichtlich vergessen wurde. Eine wichtige Rolle spielte die Tatsache, dass er sich ab 1907 von der sozialdemokratischen Partei abwandte. Nach der Februarrevolution von 1917 stand er eher ihrem menschewistisch-internationalistischen Flügel nahe und protestierte an Maksim Gor’kijs Seite gegen die bolschewistische Machtübernahme. Ein weiterer Grund war seine Nähe zur Pädologie, einer synthetischen Wissenschaft vom Kind, die Medizin, Psychologie und Pädagogik umfasste, und als solche 15 Jahre Bestand hatte, bis sie 1936 als „antimarxistisch“ verurteilt wurde. Den größten Anteil daran aber, dass Pinkevič lange Zeit so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, hatte das seit 1937 wirksame, später nur langsam überwundene Stigma als „Feind des Volkes“.
Die Forschungslücke zur Biographie von Pinkevič versucht mit Valerij S. Volkov ein Historiker zu schließen, der sich mit zahlreichen Veröffentlichungen zur russischen Hochschulgeschichte und intelligencija im 20. Jahrhundert einen Namen gemacht hat. Ziel ist es, die intellektuelle Entwicklung des Sowjetpädagogen sowie die Logik seines Verhaltens zu ergründen. Herangezogen werden alle im Laufe des Lebens von Pinkevič produzierten Texte: literarische Erzählungen, naturkundliche Methodiken, Rezensionen, öffentliche Appelle, tages- bzw. bildungspolitische Reden, Vorträge (im Ausland), Zeitschriften-, Lexikon- und Sammelbandartikel u.a. Dort, wo es um spätere Angriffe auf Pinkevič und dessen Gegenwehr – bis hin zur späteren Selbstverleugnung – geht, werden gezielt einzelne Sätze, mitunter auch ganze Passagen aus dem auch Dutzende wissenschaftliche Monographien umfassenden Oeuvre des Autors zitiert. Mit dieser Herangehensweise versucht der Biograph, die tatsächlichen Beweggründe und Motive für das jeweilige Handeln seines Protagonisten herauszuarbeiten.
Am Anfang stehen die Schulzeit am Gymnasium in Ufa, besonders aber die Zeit als Student an der naturwissenschaftlichen Abteilung der Universität Kazan’. In der Hochphase der Revolution von 1905, nachdem Pinkevič auf dem Universitätsplatz heftig von der Polizei verprügelt worden war, verließ er Universität und Stadt und begann das Leben eines Revolutionärs. In Ekaterinburg und in Lugansk (in der heutigen Ukraine) verbrachte er jeweils mehrere Monate in Untersuchungshaft, beide Haftzeiten endeten mit anschließender Rückführung nach Kazan’. Seine „studentischen“ Jahre (von 1904 bis 1907) standen, wie Pinkevič später betont, beispielhaft für Vorbereitung, Höhepunkt und Zusammenbruch der ersten russischen Revolution.
Mit Unterstützung des Rektors und einiger Professoren konnte Pinkevič sein unterbrochenes Studium 1907 wieder aufnehmen und im Jahr darauf erfolgreich beenden. Da er aber trotz ausdrücklicher Empfehlung nicht als Professorenstipendiat an der Universität verbleiben durfte, nahm er ein Angebot des Kadettenkorps und Lehrerseminars in Vol’sk (im Gouvernement Saratov) an, dort Naturkunde zu unterrichten. Ein fester Bestandteil seines neuen Lebens war fortan auch das Schreiben, das er während der Lugansker Haft begonnen hatte. Ein für Pinkevič einschneidendes Erlebnis war der Kontakt zu Gor’kij, der in zwei Briefen vom italienischen Exil auf Capri aus seinen ersten Band mit Erzählungen einer strengen Kritik unterzog.
1914 gelang Pinkevič der Aufstieg an eines der renommiertesten Gymnasien Russlands: die private Tenišev-Handelsschule in Petrograd. Während des Ersten Weltkriegs und nach der Februarrevolution von 1917 engagierte er sich in Gor’kijs Monatszeitschrift „Letopis’“ (Die Chronik) und dessen Zeitung „Novaja žizn’“ (Neues Leben). Eine wichtige Rolle spielte auch das Komitee für Volksbildung, ein Expertengremium, welches das Ministerium für Volksaufklärung in der Zeit der Provisorischen Regierung beriet.
Dass Pinkevič die Arbeit als Experte nach der Ablösung der Provisorischen Regierung durch die bolschewistische Regierung fortsetzte, ist besonders der Patronage des neuen Volkskommissars für Aufklärung, Anatolij V. Lunačarskij, zu verdanken. Dieser fühlte sich in der Frage, welche Art von Schule in der Zukunft zu organisieren sei, eher der sogenannten Petrograder Gruppe um Pinkevič zugehörig als der weiter links stehenden Moskauer Gruppe.
Im November 1918 wurde in Petrograd unter Mitwirkung von Pinkevič ein Anfang 1920 nach Aleksandr I. Gercen (Herzen) benanntes Pädagogisches Institut gegründet. Ebenfalls unter seiner Mitwirkung entstand im Oktober 1920 eine Regionaluniversität in Ekaterinburg, ein ambitionierter Zusammenschluss technischer und gesellschaftswissenschaftlicher Institute. Seine Berufung als Stellvertreter in Gor’kijs Petrograder Kommission für die Verbesserung der Lage der Wissenschaftler (kurz: PetroKUBU) zwang Pinkevič, seine Tätigkeit als Rektor an der Uraler Universität, für die er vom Gercen-Institut ohnehin nur bis Juni 1921 beurlaubt worden war, vorzeitig zu beenden.
1922 unternahm Pinkevič erstmals eine mehrmonatige Dienstreise über Finnland nach Schweden und Deutschland (u.a. zu Gor’kij). Sie markierte den Beginn seiner intensiven Auseinandersetzung mit der Sowjet-Pädagogik, wofür er zunächst die Leitung des Gercen-Instituts und dann auch die der PetroKUBU abgab. Aus seiner Übersiedlung nach Moskau resultierte im Mai 1924 die Übernahme des Amtes des Rektors an der 2. Moskauer Universität, die ein knappes Jahr nach dem Oktoberumsturz auf der Basis der ehemaligen Hochschulkurse für Frauen gegründet worden war. 1926 gründete er hier das Wissenschaftliche Forschungsinstitut für Pädagogik und übernahm dessen Leitung. In dieser Funktion reiste er regelmäßig ins Ausland, vor allem nach Deutschland (1926, 1927, 1928), später sogar für mehrere Monate in die USA (1929). Zugleich begannen aber für Pinkevič politisch bedingt schwierige Zeiten: ideologisch motivierte Anschuldigungen, die Auflösung seiner Universität und der Zwang zu öffentlicher Selbstkritik. Diese bezeichnet das Ende seiner intellektuellen Unabhängigkeit. Ein letzter Artikel über den Gegenstand der Pädagogik aus dem Jahr 1937 stellt, wie schon Krüger-Potratz hervorhob, eine einzige Verbeugung des Autors vor Stalin und ein im Grunde nutzloses Loblied auf die kommunistische Erziehung dar.
Volkovs Studie über „den ersten Rektor des 3. Pädagogischen Instituts in Petrograd“ steht in der Tradition der Erforschung der eigenen Hochschule, geht aber angesichts der oben genannten Vielfalt und Reichweite der herangezogenen Quellen (St. Petersburg, Moskau, Kazan’, Ekaterinburg) darüber hinaus. Die einzelnen Seiten bzw. Episoden des Lebens von Pinkevič vermitteln einen tief reichenden Einblick in die allgemeine Kultur- und Gesellschaftsentwicklung Russlands in den ersten zwanzig Jahren der Sowjetzeit, wobei die von Pinkevič (mit-)geprägte sowjetische Schul- und Hochschulentwicklung einen Schwerpunkt bildet. Allerdings kann Volkov die Frage, inwieweit der geschilderte Werdegang des Protagonisten seine Vernichtung im Jahr 1937 bedingte, nicht eindeutig beantworten, zum einen, weil es die Quellenlage bis heute faktisch nicht hergibt, zum anderen, weil der Autor diese Frage auch theoretisch an keinem Punkt seiner Arbeit, auch nicht in den kurzen Schlussbemerkungen, thematisiert.
Das Fehlen eines Namens- und Sachregisters sowie gelegentliche Ungereimtheiten und kleinere Fehler sind meine einzigen Kritikpunkte an Volkovs Arbeit. Wie generell in (kleinen) Universitätsverlagen üblich, ist das Buch leider nur in einer Auflage von 500 Exemplaren gedruckt worden.
Matthias Bürgel, Oldenburg
Zitierweise: Matthias Bürgel über: Valerij S. Volkov: Pervyj rektor Tret’ego Pedagogičeskogo Instituta v Petrograde. Stranicy žizni A. P. Pinkeviča. Pod obšč. red. G. A. Bordovskogo i V. A. Kozyreva. S.-Peterburg: Izdat. RGPU imeni A. I. Gercena, 2007. 583 S., Abb. ISBN: 978-5-8064-1203-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Buergel_Volkov_Pervyj_rektor.html (Datum des Seitenbesuchs)
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