Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 4, S. 601–603
Stefan Samerski (Hrsg.) Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. VII, 221 S. ISBN: 978-3-412-20004-6.
Es ist ein faszinierendes Areal für die kulturhistorisch informierte Forschung, das mit diesem Sammelband für die Region Ostmitteleuropa erschlossen wird: Die Erweckung nationaler Identifikationsfiguren aus dem (vermeintlichen) Tiefschlaf seit 1945 in den am Ende des 20. Jahrhunderts wiederentstandenen Demokratien der Region. Religiöse Verehrung, historische Bedeutung und staatlich inszenierte Kulte stehen in diesem Kontext in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander.
Zunächst sei auf den auf den ersten Blick etwas aus dem thematischen Rahmen fallenden Beitrag von Stefan Troebst über „Ostmitteleuropa – Region und Epoche“ hingewiesen, der den aktuellen Stand der Raumdebatte um Begriffe und Vorstellungen vom östlichen Europa zusammenfasst und dabei auf die Vermittlungsleistung der historischen Osteuropaforschung verweist, denn dank Halecki, Zernack und anderen sei der Begriff der „Geschichtsregion“ auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft angekommen (S. 26). Auch wenn der ‚Raum‛ gewiss kein ‚Patron‛ ist, haben nationale Legitimationsdiskurse sich schon immer speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittener Raumkonstruktionen bedient, so dass auch Troebsts Beitrag seinen Platz im Band hat. Umso mehr gilt dies für den zweiten einführenden Artikel, in dem Hans-Jürgen Becker die kirchenrechtliche Institution der heiligen Landespatrone in der Neuzeit analysiert. Allerdings konzentriert sich Becker auf den katholisch geprägten Raum; einleitende Worte zum orthodoxen Christentum und dessen Heiligenverehrung fehlen leider.
Frithjof Benjamin Schenk bietet eine Zusammenfassung seines Buches über Aleksandr Nevskij, die uns bereits einführt in eines der Themen dieses Bandes: die Ambiguitäten der Nutzung von historischen Heiligenfiguren in der Gegenwart. Im Falle des russischen Nationalheiligen Aleksandr Nevskij äußert sich diese Ambiguität darin, dass er in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts als sowjetpatriotische Symbolfigur auserwählt wurde, da man auf seine feste Verankerung im religiösen Bewusstsein der Russen bauen konnte. Seine heutige Verwendung in der Pop- und Werbekultur, aber auch im staatlichen und religiösen Kontext, macht sich wiederum die Erinnerungsmuster aus der Sowjetzeit zunutze. Ähnliche Strukturen arbeiten Agnieszka Gąsior zur Stellung Marias in Polen und Stefan Samerski zum Heiligen Wenzel in den böhmischen Ländern heraus. Noch 1966, als man das 1000. Jubiläum der Christianisierung Polens in Częstochowa beging, verlieh die Gottesmutter ihrer Weihestätte den Nimbus eines „transnationale[n] Wallfahrtsort[es] mit gesamtostmitteleuropäischer Magnet- und Vorbildwirkung“ (S. 86). Heute hingegen sei sie dank der konservativen Station „Radio Maryja“ eher zu einem Symbol der Polarisierung degradiert. Wenzel wiederum hatte seine Karriere in der Republik der Zwischenkriegszeit auch dem Umstand zu verdanken, dass die Habsburger die Wenzelschronik und jegliche Wenzels-Manifestationen verboten hatten. Tatsächlich bedienten sich auch die Kommunisten seiner Wirkung, auch wenn ihre Geschichtsschreibung ihn als „Schwächling“ beiseite schob (S. 108). Heute wiederum sei der „Wille zum Symbol“ entscheidend angesichts der Tatsache, dass Wenzel weder der eigentliche Staatsgründer war, noch (kirchen)politisch eindeutig zuzuordnen ist. Während ihn allein die Kirche kontinuierlich tradierte, sieht Samerski gerade in der Ambiguität das Verbindende in der Gestalt Wenzels: Eine Figur, in der sich jeder irgendwie wiederfinden kann.
Die orthodoxen Mönche Kyrill und Method als Nationalpatrone der katholischen Slowaken? Eva Kowalská geht dieser nur auf den ersten Blick überraschenden Verbindung nach und kommt zu dem Ergebnis, dass diese beiden Heiligen aufgrund ihrer intellektuellen Leistungen von der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts konfessionsübergreifend zu Stiftern der kulturellen Traditionen der Slowaken deklariert wurden. Während der Tschechoslowakismus der Zwischenkriegszeit die beiden als Apostel von Slowaken und Tschechen sehen konnte, war ihre Funktion als slowakische Nationalpatrone explizit gegen Ungarn gerichtet. Plötzlich hatten sie die kyrillische Schrift nicht mehr für alle Slawen kreiert, sondern ganz speziell für die „(alten) Slowaken“. Dieser Verengung des Kultkontextes steht im Falle des ungarischen Heiligen Stephan wieder ein extremer Fall von Erweiterung der Deutungsmöglichkeiten gegenüber, die Juliane Brandt in ihrem spannenden Aufsatz über die 1983 König Stephan gewidmete Rockoper und deren diverse Lesarten schildert. Ähnlich vieldeutig ist die Interpretation Stefans des Großen im rumänischen Diskurs, wobei in der Heiligsprechung 1992 die orthodoxe Sicht mit der nationalen zusammenfließen sollte. Abschließend dekliniert Stefan Rohdewald diese Ambiguität der Patrone anhand der Rolle des Heiligen Sava für Serbien, des Heiligen Ivan von Rila für Bulgarien und des Heiligen Kliment von Ochrid für Makedonien durch. In allen drei Fällen konstatiert er jedoch für deren aktuelle Nutzung eine Instrumentalisierung im Sinne der jeweiligen Nationalstaaten und der Ausblendung anderer nationaler und konfessioneller Gruppen.
So interessant all diese Einzelstudien auch sind, bleibt der Leser doch allein, wenn es an ihre Synthetisierung geht. Additive Erkenntnisse, gerade wenn sie einem so wohlkomponierten Band entspringen, können durch eine Zusammenfassung der Herausgeber nur aufgewertet werden. Dass sich zudem weder Karten noch Bilder finden, wobei doch gerade letztere so wesentlich sind für die Imprägnierung der diversen Öffentlichkeiten mit ihren Patronen, ist schade. Ein Autorenverzeichnis hätte freilich auch nicht geschadet.
Karsten Brüggemann, Tallinn
Zitierweise: Karsten Brüggemann über: Stefan Samerski (Hrsg.) Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. ISBN: 978-3-412-20004-6, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 601–603: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Brueggemann_Samerski_Renaissance_der_Nationalpatrone.html (Datum des Seitenbesuchs)