Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 4, S. 590–592
Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 10. Jg., 2006, H. 2: Schwerpunktthema „Vasilij Grossmans Totalitarismusmodell“. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2006. 212 S. ISSN: 1433-4887.
Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 11. Jg., 2007, H. 1: Schwerpunktthema „Wegbereiter des Totalitarismus“. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2007. 204 S. ISSN: 1433-4887.
Zwei Themenbände der Zeitschrift „Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte“ widmeten sich 2006 und 2007 schwerpunktmäßig dem Diktaturenvergleich zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der stalinschen Sowjetunion. Sie nähern sich dem Thema „Totalitarismus“ kultur- und ideengeschichtlich an. Ein Band ist dem Werk Vasilij Grossmans anlässlich seines 100. Geburtstages 2005 gewidmet, der andere ausgewählten „Wegbereitern des Totalitarismus“, vornehmlich H. S. Chamberlain, Lenin und Hitler.
Auch wenn der Begriff des Totalitarismus umstritten ist, so erfreuen sich der Diktaturvergleich selbst und die grundlegenden Schriften zur Ideengeschichte nach wie vor großer Aufmerksamkeit in der Forschung. (Vgl. z.B. Jörg Baberowski (Hrsg.) Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert. Göttingen 2006, sowie die Zusammenstellung der Einzelaufsätze aus dem „Forum“ von Leonid Luks: Zwei Gesichter des Totalitarismus: Bolschewismus und Nationalsozialismus im Vergleich. 16 Skizzen. Köln, Weimar, Wien 2007, in dem auch seine hier besprochenen Beiträge wieder abgedruckt sind.) Die Forschung zu diesem Thema wird vermutlich noch zunehmen, sobald die geplante kritische Edition von Hitlers „Mein Kampf“ bewerkstelligt ist. (Vgl. zuletzt zur Genese und vor allem zur Wirkungsgeschichte: Othmar Plöckinger Geschichte eines Buches: Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922–1945. München 2006.)
Im Zentrum des ersten besprochenen Bandes steht Grossmans epochales Werk „Leben und Schicksal“ über das Aufeinandertreffen der Systeme in der Schlacht von Stalingrad. Der 1960 abgeschlossene historische Familienroman konnte erst 1980 im Ausland, Ende der Dekade dann auch in der UdSSR erscheinen und teilte somit das Schicksal des von Grossman und I. Ėrenburg bearbeiteten „Schwarzbuchs“ über die Ermordung der Juden in der besetzten Sowjetunion. Sechs Beiträge im „Forum“ setzen sich mit Grossman selbst, seinem Roman, dem „Schwarzbuch“ und den Nachwirkungen skizzenhaft bis eingehend auseinander.
J. Zarusky verortet „Leben und Schicksal“ im Kanon der antitotalitären Literatur auf einer Höhe mit den Werken G. Orwells. Er sieht die hauptsächlichen Hindernisse für die Veröffentlichung im Systemvergleich sowie in der Tabulosigkeit Grossmans, der noch während der Stalinzeit mit der Niederschrift begonnen hatte, als nicht die geringste Aussicht auf eine Publikation bestand. Dass der Roman selbst für die Tauwetterperiode zu radikal war, sollte sich nach dessen Fertigstellung zeigen. Grossmans Antrieb, ein solch deutlich antistalinistisches Buch zu schreiben, sieht Zarusky in seiner jüdischer Identität begründet. Als Grossmans bleibendes Verdienst für die europäischen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg stellt Zarusky heraus, wie Grossman die Aufmerksamkeit auf die Konkurrenz der Erinnerungen zwischen Bevölkerung und Staat lenkt. U. Backes kritisiert demgegenüber an „Leben und Schicksal“, dass der Roman zwar auf etlichen Gebieten – wie dem Lagersystem, bei dem durchaus Funktionsunterschiede deutlich würden, der herrschaftstechnischen Strukturähnlichkeit und der Verfolgung der Feinde – Vergleiche zwischen den Systemen ziehe, dass jedoch der Legitimitätsvergleich zu kurz komme.
L. Luks und A. Rybakov beschreiben vor allem das moralische Problem menschlichen Verhaltens im zutiefst inhumanen System. Luks macht dies an dem Spannungsfeld bei Grossman zwischen der Beschreibung von Unterwürfigkeit und Freiheitsdrang deutlich, der dem Menschen auch in totalitären Systemen die Wahl lasse, während Rybakov sich auf die Frage nach der Funktion und dem Wesen des „Guten“ in „Leben und Schicksal“ konzentriert, das sich immer nur in der konkreten guten Tat manifestiere, nicht in einem abstrakten, etwa göttlichen Prinzip.
Im Mittelpunkt des zweiten Bandes, „Wegbereiter des Totalitarismus“, stehen die beiden Beiträge von L. Luks und A. Rybakov. Um es gleich vorwegzunehmen: Problematisch erscheint das Etikett vom „Wegbereiter“ des Totalitarismus dort, wo es gleichzeitig die Architekten der Systeme betrifft wie Lenin und Hitler. Aus dem Pool der potentiellen Ideengeber wählt Luks für die nationalsozialistische Seite den germanophilen Journalisten Steward H. Chamberlain mit seinem zuerst 1899 veröffentlichten Werk „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“, dem er Lenins programmatische Schrift „Was tun?“ von 1902 gegenüberstellt. Beiden attestiert Luks den Glauben an die Gesetzmäßigkeit von Geschichte, mit dem Unterschied, dass er Chamberlain eine pessimistische, Lenin hingegen eine optimistische Grundhaltung bescheinigt. Luks sieht die bolschewistische Diktatur in „Was tun?“ ebenso antizipiert wie den Holocaust in den „Grundlagen“ (S. 47). Die Frage, weshalb es ausgerechnet in Deutschland und Russland zur Umsetzung in die Praxis kam, beantwortet Luks mit der Notwendigkeit, die jeweilige innere Spaltung der Staaten zu überwinden. Diese sieht er in Deutschland national, in Russland sozial begründet (S. 48). Die Auswahl der Schriften ist zwar insofern plausibel, als beide zeitlich vor der Realisierung der dort grob umrissenen Konzepte entstanden, doch bleibt das Vergleichsraster etwas vage. Zudem ist der Einfluss Chamberlains trotz des Publikumserfolges seiner Schrift und trotz seines Treffens mit Hitler 1923 doch geringer zu veranschlagen als die Möglichkeiten, die Lenin hatte, seine Ideen in die Tat umzusetzen. Auch der Gesichtspunkt des Totalitarismus selbst gerät etwas aus dem Blick, zumal der Terminus weder hier noch in den übrigen Beiträgen definiert wird.
A. Rybakov stellt seinen Vergleich ebenfalls unter den Begriff des „Großen Sinns der Geschichte“. Er nähert sich seinem Gegenstand vorwiegend deskriptiv; eine Definition der zentralen Analysekategorie „totalitärer Bildungsroman“ fehlt. Rybakov liest die ersten beiden Kapitel von Hitlers „Mein Kampf“ als autobiographischen Bildungsroman und vergleicht sie mit anderen nationalsozialistischen Werken und mit solchen des sozialistischen Realismus. Dabei verweist er insbesondere auf Hitlers Selbststilisierung. Auch hier lässt sich ein Verständnis von Geschichte als zentraler Handlungsanleitung für Probleme der Gegenwart beobachten. Sich selbst als Instrument historisch vorgegebener Prozesse zu verstehen – bei Hitler zu dieser Zeit noch durchaus religiös verbrämt – ist denn auch das Leitmotiv sowohl der erwähnten Kapitel in „Mein Kampf“ als auch in Werken wie N. Ostrovskijs „Wie der Stahl gehärtet wurde“. Rybakov stellt als besonderes Kennzeichen der „totalitären Bildungsromane“ heraus, dass ihre Helden keine prägnanten Fehler begehen, aus denen sie lernen. Stattdessen vollzieht sich der Umschwung von der intuitiv richtigen Aktion hin zu bewusstem Handeln (S. 66), wobei der Anstoß dazu meist von außen kommt. Zu Recht verweist Rybakov darauf, dass solche Texte im Nationalsozialismus eine sehr viel geringere Bedeutung hatten als in der literatur‑ und, so könnte man hinzufügen, filmzentrierten Kultur der Stalinzeit. Umso erstaunlicher ist, dass die potentiellen Identifikationsfiguren laut Rybakov gerade durch ihre fehlende Katharsis automatenhaft, nicht menschlich wirken, was der angestrebten Intention, sie zu Vorbildcharakteren zu modellieren, zuwiderläuft.
Die beiden Bände beleuchten ausschnitthaft komparatistische Aspekte oder Einzelmerkmale der beiden Diktaturen in kultureller Verarbeitung. Die meisten Themen sind bereits seit längerer Zeit Forschungsgegenstand und auch schon vergleichend untersucht worden. Neue Quellen zu diesen Themenbereichen bieten die Bände nicht, sondern sie geben stattdessen Anregungen zum Weiterdenken. Indes fehlen ihnen eine verbindende analytische oder wenigstens erklärende Klammer sowie systematisierende Vergleichskategorien. So erhellend auch die Einzelbeiträge sind, eine Synthese bleibt doch vorläufig ein Desiderat.
Ragna Boden, Düsseldorf
Zitierweise: Ragna Boden über: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 10. Jg., 2006, H. 2: Schwerpunktthema „Vasilij Grossmans Totalitarismusmodell“. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2006. ISSN: 1433-4887.Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte. 11. Jg., 2007, H. 1: Schwerpunktthema „Wegbereiter des Totalitarismus“. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2007. ISSN: 1433-4887, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 590–592: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Boden_SR_Forum_10_2006_2_11_2007-1.html (Datum des Seitenbesuchs)