Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 512-515
Verfasst von: Dietrich Beyrau
Robert Kindler: Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan. Hamburg: Hamburger Edition, 2014. 381 S., 1 Kte., Abb., Tab. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-277-6.
Die an der Humboldt-Universität entstandene Dissertation über Stalins Nomaden stützt sich in hohem Maße auf Archivalien, vor allem auf amtliche Dokumente der für die kasachischen Nomaden zuständigen Instanzen in Moskau und Ksyl-Orda. Als besonders wichtig bezeichnet der Autor Unterlagen der Parteikontrollkommission im Archiv des Präsidenten der Republik Kasachstan. Ego-Dokumente von Nomaden ließen sich aus naheliegenden Gründen kaum finden. Ihre Wahrnehmungen seien nur in der Brechung amtlicher Zeugnisse oder derjenigen von Parteiaktivisten zugänglich (S. 28–29).
Stalins Nomaden lässt sich nicht nur als Beschreibung von Herrschaft durch Hunger sondern auch als Paradigma sowjetischer Herrschaftstechniken lesen. Der Autor versteht seine Studie als Beispiel für eine Nationsbildung in der Katastrophe. Gegenstand der Arbeit ist die sowjetische Politik gegenüber den nomadisierenden Kasachen. Es geht um die durch Requisitionen, Klassenkampf, Sesshaftmachung und Kollektivierung produzierte Hungersnot in Kasachstan, zu dieser Zeit noch eine autonome Republik in der RSFSR. 1932 bis 1934 sind zwischen 1,5 und 2 Millionen Menschen umgekommen, ca. ein Drittel der Kasachen und ein Viertel der multinationalen Bevölkerung (S. 11, 232, 238, 310).
Die Studie wird strukturiert durch eine Reihe von Annahmen über den Typus sowjetischer Herrschaftspraktiken der Stalinzeit, die auch für Kasachstan gelten. Hervorstechend ist anormisches Regieren als Norm. Seit Ende der zwanziger Jahre äußerte sie sich in anhaltender Gewalt-Eskalation, in die fast alle Bevölkerungsgruppen involviert waren. Neben der Gewalt wurde der Hunger zum zentralen Instrument gegenüber der ansässigen und besonders der (halb-)nomadischen Bevölkerung. 65 % der Kasachen galten 1926 als Halbnomaden, im Sommer in begrenzten Räumen wandernd, und nur noch 6 % als weiträumig umherziehende Vollnomaden (S. 34).
Gegen die neuere kasachische Historiographie hebt Kindler hervor, dass die Konfliktlinien selbst um 1930 nicht einfach zwischen russisch-europäischer Herrschaft und einheimischen Kasachen verliefen (S. 134). Er hebt die Involvierung auch kasachischer Bevölkerungsgruppen in die Gewaltpolitik hervor, wenn auch, was er weniger betont, als die zumeist schwächeren Akteure. Denn der von den Bol’ševiki betriebene „Klassenkampf“ wurde in eine Gesellschaft hineingetragen, die noch weniger als das ländliche Russland von Klassen strukturiert wurde. Die auf Konfrontation setzende Politik mobilisierte bestenfalls marginalisierte Gruppen einer in Clans, Netzwerken und Familienverbänden organisierten Gesellschaft. Diese Strukturen waren selbst in der Partei wirksam. Die teils patriarchalen, teils klientelistischen Netzwerke ließen sich nicht ohne weiteres in Arm und Reich oder gar in Ausbeuter und Ausgebeutete aufspalten. In den von oben und außen in die Gesellschaft hineingetragenen Konflikten ging es um Positionen, Patronage und um materielle Ressourcen. Diese Auseinandersetzungen erfolgten weniger zwischen ‚oben und unten‘ als vielmehr zwischen Clans und zwischen Netzwerken mit ihrem Rückhalt oder mit ausbleibender oder unzureichender Unterstützung in den Patronagesystemen der Partei.
In der bolschewistischen Imagination entsprachen die Beis, Clanführer, Familienoberhäupter oder Autoritätspersonen den Kulaken im russischen Dorf. Die Stigmatisierung, exzessive Besteuerung und schließlich die Enteignung und Deportation zielten wie im russischen Dorf nicht immer ohne Erfolg auf Entsolidarisierung und stürzten ganze Verbände und Clans ins Elend.
Eskalierende Gewalt wurde im Gebiet Semipalatinsk eingeübt durch die forcierten Requisitionen nach dem ural-sibirischen Modell Stalins, durch eine wüste Stigmatisierung und schließlich die „Ausschaltung“ der Beis. Die debaizacija geriet zum „groß angelegten Raubzug“ (S. 139). Er kannte viele Verlierer, aber auch, was nicht zu vergessen sei, Gewinner wie Angehörige marginalisierter Gruppen, rivalisierende Clans oder Kader, die sich geraubtes Vermögen aneigneten, oder auch Siedler, die von der Ausplünderung und Vertreibung der Nomaden profitierten. Besonders infam war, dass im Zuge der debaizacija, der folgenden allgemeinen Requisitionen bei den (Halb-)Nomaden und im Laufe der „Kollektivierung“ des Viehbestandes nicht Vieh, sondern Getreide requiriert wurde: Die (halb-)nomadischen Kasachen mussten deshalb ihr Vieh zu fallenden Preisen verkaufen, um Getreide zu steigenden Preisen einzukaufen und an den Staat abzuliefern. Die chaotische Kollektivierung und Sesshaftmachung der Nomaden bedeutete zudem eine fast schon systematische Dezimierung des Viehbestandes. Die Folgen waren Fluchtbewegungen innerhalb Kasachstans, in benachbarte Sowjetrepubliken und auch ins chinesische Ost-Turkestan. Eindrucksvoll werden diese Vorgänge, der „fragmentierte Bürgerkrieg“ (S. 182), die Auffanglager, die Sterbe- und „Müllzonen“ (S. 255) geschildert. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, wie dysfunktional – nach Kriterien rationalen Wirtschaftens – die bolschewistische Politik Prozesse in Gang setzte, die sich selbst mit Gewalt kaum beherrschen ließen. Darüber hinaus machte sie auch ihre Opfer zu Gewaltakteuren. In manchen Regionen wurden die Exekutoren selbst zu Opfern der Gewalt. „Während wir früher die Banditen suchen mussten, so suchen sie uns jetzt“, beschwerte sich ein Parteigenosse (S. 180).
Ein Aspekt wird immer wieder angesprochen, aber nicht systematisch erörtert: Kindler lehnt offensichtlich Thesen ab, die Stalin und seiner Entourage Absichten und Praktiken eines ethnischen Genozids unterstellen (S. 26–27). Er zitiert hingegen Äußerungen in der Partei, die – wie bei Stalin selbst – auf ein verbreitetes sozialdarwinistisches Verständnis von Wirtschaft und Politik hinauslaufen: Vermeintlich unproduktive, dem Fortschritt im Wege stehende Menschen und Menschengruppen könne man ungerührt verhungern lassen oder sonst wie entfernen (S. 79, 226, 262, 301) (Dietrich Beyrau: The Long Shadow of the Revolution. Violence in War and Peace in the Soviet Union, in: Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War. Ed. by Jochen Böhler [u.a.]. München 2014, S. 285–316, 304–305). Anstelle der Umerziehung, Zivilisierung und Modernisierung ‚kulturell rückständiger‘ Menschengruppen und Völker, wie sie auch gegenüber den Kasachen in den zwanziger Jahren propagiert worden waren, wurden diese nun einfach dezimiert. Dass hierbei auch ethnische Aspekte eine Rolle gespielt haben müssen, bleibt bei Kindler vielleicht etwas zu sehr unterbelichtet. Er zitiert aber die Beschwerde eines Mitarbeiters der OGPU: Die Čekisten erpressten Aussagen gegen kasachische Genossen. Sie hätten „jährlich zu Dutzenden arme Kasachen“ ermordet, „um die armen und mittleren Kasachen von den kasachischen Funktionären zu isolieren, und wenn wir sie nicht selbst umbringen, dann agieren wir durch russische Hooligans“ (S. 105). Kindler nimmt diese Beschwerde als Beleg dafür, dass die im Zuge der Requisitionen, Sesshaftmachung und Kollektivierung entstandenen Gewaltgemeinschaften der kommunistischen Kader sich gegenseitig misstrauten, wie spätestens mit Beginn des sog. großen Terrors allzu deutlich werden sollte. Ein solches Zitat lässt sich freilich auch anders interpretieren – als Zeichen des Überlegenheitsgefühls der russischen Kader, die mit den kasachischen Genossen Katz und Maus spielten.
Die Schilderungen von Hunger, Flucht und Gewaltexzessen machen den zentralen Teil der bedrückenden und auch eindrucksvollen Darstellung aus. Diese Geschehnisse sind umso gespenstischer, als nach Ablösung des Ersten Parteisekretärs Filipp Gološčekin im April 1933 der Nachfolger L. I. Mirzojan im Rahmen des sog. neonėp ein nun als sowjetisch bezeichnetes Nomadentum mit eingeschränkten Wanderungsräumen zuließ. Die neu etablierten Ansiedlungspunkte der Kasachen wurden allerdings bald wieder wie die übrige Landbevölkerung durch die MTS politischer Kontrolle und ökonomischer Ausbeutung unterworfen.
Sesshaftmachung und Kollektivierung waren ein „verheerender Fehlschlag“ (S. 178). Mit extremen Mitteln wurde nur ein Prozess beschleunigt, der seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Steppe ohnehin im Gang war. Die Maßnahmen dienten auch der Raumgewinnung für die Lager und Sondersiedlungen der aus dem europäischen Russland deportierten Kulaken, der politischen und kriminellen Häftlinge, die in den riesigen Lagerkomplexen zu Zwangsarbeiten eingesetzt wurden.
Es wäre wünschenswert gewesen, wenn mit Blick auf die Entleerung des Raumes und seine Auffüllung durch Deportierte Kindler nicht nur im Schlusskapitel auf die demographischen Implikationen dieser ‚Zuwanderung‘ und damit auch etwas ausführlicher auf die Frage nach dem Status Kasachstans in der Zeit Stalins eingegangen wäre. Mit Blick auf die Beteiligung von Kasachen an der stalinschen Gewaltpolitik lehnt er mit guten Gründen eine ethnische Gegenüberstellung von (russisch-europäischen) Tätern und (kasachischen) Opfern ab. Thesen, die Kasachstan – ähnlich wie Usbekistan mit seiner Baumwoll-Monokultur – entgegen den Anfängen in den zwanziger Jahren doch wieder auf den Status einer Kolonie gedrückt sehen, werden nicht ausführlicher erörtert. Diese Annahme wird implizit abgelehnt, obwohl auch ‚klassische‘ Kolonialpolitik nicht ohne einheimische Erfüllungsgehilfen und Profiteure ausgekommen ist. Gegen eine These von Kasachstan als sowjetischer Kolonie könnte eingewandt werden, dass die erste Generation von kasachischen Nationalisten – eine einheimische Subelite, sozialisiert durch russische Bildung und Positionen in der russischen Verwaltung – seit Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls vom absehbaren Ende des Nomadentums ausgegangen ist. Aber auch Kindler bezweifelt nicht, dass das „bolschewistische Tempo“ der Sesshaftmachung wie alle damit zusammenhängenden Strukturmaßnahmen von Moskau vorgegeben wurden, Kasachstan sich mithin in einer subalternen Position befand. Sie unterschied sich allerdings nicht grundsätzlich von derjenigen anderer sowjetischer Regionen. Besonders deutlich wird diese Abhängigkeit vom Moskauer Zentralismus bei der Ablehnung kasachischer Forderungen nach einer autonomen Bevölkerungspolitik, d.h. der Forderung, dass Einwanderung von Ksyl-Orda und nicht von Moskau aus festgelegt werde, um die ethnische Dominanz in dem 1936 zur Unionsrepublik beförderten Kasachstan zu erhalten (S. 84 ff., S. 93).
Eher essayistisch wird vor allem im Schlusskapitel Auswege die Frage nach dem Stellenwert der Katastrophen der dreißiger Jahre in der heutigen Erinnerungs- und Geschichtspolitik Kasachstans erörtert. Einerseits sieht der Autor die kasachische Nationswerdung „objektiv“ durch die Erfahrung der Katastrophe bestimmt. Andererseits räumt er ein, dass im heute zumindest amtlich propagierten Geschichtsbild heroische und sowjetische Perspektiven auf die frühere und jüngere Geschichte wie die Beteiligung am Großen Vaterländischen Krieg vorherrschen. Sie haben die Katastrophen-Erfahrung eher marginalisiert – sei es aus grundsätzlichen, sei es aus taktischen Gründen mit Blick auf den mächtigen russischen Nachbarn. Ob das ‚Vergessen‘ als Verdrängung oder als heilender Vorgang zu interpretieren sei, wird offen gelassen.
Zitierweise: Dietrich Beyrau über: Robert Kindler: Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan. Hamburg: Hamburger Edition, 2014. 381 S., 1 Kte., Abb., Tab. = Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. ISBN: 978-3-86854-277-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Beyrau_Kindler_Stalins_Nomaden.html (Datum des Seitenbesuchs)
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