Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 497-498
Verfasst von: Martin Beißwenger
Gerd Stricker: Geschichte der russischen orthodoxen Kirche in der Diaspora. Berlin: OEZ Berlin-Verlag, 2009. 141 S. ISBN: 978-3-940452-23-8.
Gut zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion ist die Russische Orthodoxe Kirche aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben Russlands kaum mehr wegzudenken. Dabei war und ist die kirchenrechtliche Autorität der Moskauer Patriarchatskirche nicht unangefochten, sah sie sich doch nach der russischen Revolution mehreren, einander oft polemisch bekämpfenden Jurisdiktionen im Ausland gegenüber. Gerd Strickers informativer Band bietet eine kompakte und systematische Darstellung der verschiedenen russischen Auslandskirchen seit Anfang der 1920er Jahre; sein eigentliches Interesse aber gilt den Versuchen des Moskauer Patriarchats, diese seit dem Ende der Sowjetunion unter ihr kanonisches Dach zu bringen.
Ihren bislang wesentlichsten Erfolg konnte die Moskauer Patriarchatskirche im Mai 2007 erzielen, als sich ihr, nicht ohne tatkräftige Unterstützung des russischen Präsidenten Putin, die 1921 aus einem Konzil im serbischen Karlowitz hervorgegangene Russische Orthodoxe Auslandskirche (ROKA) unter Beibehaltung einer gewissen Autonomie eingliederte. Geleitet zunächst von dem charismatischen Metropoliten Antonij, stand die ROKA der Sowjetunion stets äußerst kritisch gegenüber, ohne dabei ihre monarchistischen Sympathien zu verstecken. Ihre dezidiert national-konservative und antikommunistische Haltung behielt sie im Wesentlichen bis in die Gegenwart bei, wodurch sie, so Stricker, die „konsequenteste unter den russischen Emigrantenkirchen“ (S. 11) wurde. Dass die ROKA stärker als andere Exilkirchen stets an ihrem „russischen“ Charakter festhielt und Assimilationsprozessen und ökumenischen Kontakten skeptisch gegenüberstand, war sicherlich eine entscheidende Voraussetzung für die jetzige Vereinigung mit dem Moskauer Patriarchat.
Dadurch unterscheidet sich die ROKA vor allem von dem einst von Metropolit Evlogij in Paris geleiteten Westeuropäischen Erzbistum, das heute dem Konstantinopoler Patriarchen untersteht. Besondere Bedeutung erlangte diese Eparchie durch die aktive Teilnahme an der ökumenischen Bewegung der Zwischenkriegszeit sowie durch das 1925 gegründete St.-Sergius-Institut in Paris, in dem bedeutende russische Theologen und Philosophen im Exil eine geistliche Heimat fanden. Im Unterschied zur ROKA hat dieses Bistum allmählich seinen rein russischen Charakter abgelegt. Ähnliches gilt auch für die Orthodoxe Kirche in Amerika (OCA), die sich 1946 zunächst von der ROKA abspaltete und dem Moskauer Patriarchat zuwandte, von dem es dann 1971 die Autokephalie erhielt.
Letztendlich, so macht Strickers Darstellung klar, widerspiegeln sich in dem heute oft gespannten Verhältnis des Moskauer Patriarchats zu den verbliebenen Exilkirchen tiefergehende soziale und kulturelle Prozesse. Auf der einen Seite stehen inzwischen kulturell assimimilierte Nachkommen der einstigen Emigranten, die weiterhin ein offenes Verhältnis zur Ökumene suchen und die Rolle der Laien auch bei der Bischofswahl beibehalten wollen. Auf der anderen Seite stehen Anhänger des Moskauer Patriarchats, deren Zahl in jüngster Zeit vor allem durch russische Auswanderer zunimmt und die größeren Wert auf die russischen Wurzeln als auf die demokratischen Mechanismen ihrer Kirche legen. Anhänger der Moskauer Patriarchatskirche erfahren neuerdings auch Unterstützung durch den russischen Staat, dessen Präsenz und Einflussnahme in Emigrantenkreisen sich nicht zuletzt in unschönen, öffentlich ausgetragenen Immobilienstreitigkeiten manifestiert hat.
Gegenüber den aktuellen kirchenpolitischen Problemen treten die geschichtlichen Aspekte der russischen Exilkirchen bei Stricker etwas in den Hintergrund. Hier finden sich auch einige Ungenauigkeiten: So unterrichtete am Pariser St.-Sergius-Institut nicht etwa der Philosoph Ivan Il’in, sondern der Theologe Vladimir Il’in (S. 40). Auch die Gewichtung der einzelnen Unterkapitel überzeugt nicht immer. Die wichtige Frage nach dem Verhältnis der ROKA zum Nationalsozialismus wird beispielsweise auf lediglich zwei knappen Seiten abgehandelt. Dagegen werden eher belanglosen finanziellen Affären in der Führung der OCA fast doppelt soviele Seiten gewidmet.
Schließlich wird auch die neueste, vor allem russische, Forschungsliteratur nur unzureichend rezipiert. Wichtige Arbeiten, beispielsweise von V. I. Kosik zur russischen Kirche in Jugoslawien oder von M. V. Škarovskij zum Problem der russischen Exilkirchen unter dem Nationalsozialismus, sind weder in der Darstellung noch in der allzu kurz geratenen Bibliographie berücksichtigt. Während Strickers Broschüre also für die aktuellen Entwicklungen recht informativ ist, werden Leser, die sich mehr für die historischen Dimensionen der russischen Diasporakirchen interessieren, weiterhin die in den achtziger Jahren in westlichen Sprachen erschienenen Arbeiten von Gernot Seide und Dimitry Pospielovsky beziehungsweise aktuellere russischsprachige Forschungen heranziehen müssen.
Zitierweise: Martin Beißwenger über: Gerd Stricker: Geschichte der russischen orthodoxen Kirche in der Diaspora. Berlin: OEZ Berlin-Verlag, 2009. 141 S. ISBN: 978-3-940452-23-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Beisswenger_Stricker_Geschichte_der_Russischen_Orthodoxen_Kirche.html (Datum des Seitenbesuchs)
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