Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 1, S. 129-130

Verfasst von: Norbert Angermann

 

Elena A. Rybina: Novgorod i Ganza [Novgorod und die Hanse]. Moskva: Rukopisnye pamjatniki Drevnej Rusi, 2009. 320 S., Abb., Taf. = Velikij Novgorod, 1150. ISBN: 978-5-9551-0331-0.

Die in Moskau lehrende Verfasserin ist seit Jahrzehnten maßgeblich an den sommerlichen Ausgrabungen in Novgorod beteiligt und dabei für die Untersuchung der handelsgeschichtlich relevanten Funde zuständig. Zugleich erarbeitete sie sich eine gründliche Kenntnis der schriftlichen Quellen zur Novgoroder Handelsgeschichte. Neben zahlreichen Aufsätzen veröffentlichte sie 1978 eine Monographie über den Novgoroder Fernhandel im Lichte des archäologischen Materials und 1986 ein Buch über die ausländischen Handelshöfe in der Volchovstadt. Zusammengefasst hat sie ihre Ergebnisse in dem grundlegenden Werk „Der Handel des mittelalterlichen Novgorod. Historisch-archäologische Studien“ (Torgovlja srednevekovogo Novgoroda. Istoriko-archeologičeskie očerki. Velikij Novgorod 2001. 390 S.).

Das hier anzuzeigende Buch ist für einen breiteren Leserkreis bestimmt. Von Kür­zungen und einigen Aktualisierungen abgesehen, bietet es in seinem Hauptteil im Prinzip dieselben Fakten, überzeugenden Erklärungen und Anhaltspunkte für Infragestellungen wie das Buch von 2001. Die auch dort schon knappen Ausführungen über den Süd- und Südosthandel Novgorods sind jetzt weggelassen, stattdessen wird die Hanse als Partner Novgorods stärker berücksichtigt.

Nach der Darstellung der Quellen- und Literaturlage betrachtet Rybina „Novgorod im Ostseeraum im 10.–12. Jahrhundert“. Damit gelangen die skandinavischen und westslavischen Verbindungen der Stadt in das Blickfeld. Ausgehend vom Fokus des Buches auf deutsche Beziehungen, vermisst man hier eine Berücksichtigung der Quellenhinweise auf mögliche erste Kontakte zwischen Novgoroder und deutschen Kaufleuten in Wollin (Adam von Bremen, 1075), Stettin und dänischen Städten, darunter Schleswig. Originell und sehr beachtenswert sind die Auffassungen der Autorin zum Kontext der Gründung des deutschen St. Peterhofes in Novgorod. Ihre Schlussfolgerung, dass dieser 1192 gegründet worden sei, wird heute in der Literatur fast durchweg akzeptiert.

Im anschließenden Kapitel über das 13. Jahrhundert spricht Rybina von einer zunächst noch andauernden vorhansischen Periode und dann von der Entstehung der Hanse. Damit weicht sie von der heutigen deutschen Hanseforschung ab, welche die frühhansische Zeit bereits im dritten bis fünften Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts beginnen lässt. In diesem Kapitel stößt man ebenso wie in den folgenden auf die Abschnittsüberschrift „Chronik der Ereignisse“. Dies signalisiert eine weitgehend an der zeitlichen Folge orientierte narrative Darstellungsweise, die dem Leser auch die Blüte des Hansehandels in Novgorod während des 14. Jahrhunderts und den Niedergang in der Folgezeit quellennah und zugleich leicht fassbar vor Augen führt. Beim auffallend knappen Eingehen auf die in der Forschung kontrovers gedeutete Schließung des Hansekontors im Jahre 1494 und bei der Behandlung der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist zu spüren, dass Rybina die beachtenswerten Untersuchungsergebnisse von Erik Tiberg nicht kennt. Ihre Darstellung reicht bis ins 17. Jahrhundert.

In zusätzlichen systematischen Abschnitten behandelt die Autorin die Geschichte des ursprünglich skandinavischen Gotenhofes und allgemeine Charakteristika des Hansekontors und des Warenaustausches. Ein eigenes Kapitel widmet sie außerdem dem westlichen Fundmaterial, wobei sie betont, dass die massenhafte Zufuhr von Buntmetallen und Bernstein der Versorgung des Novgoroder Handwerks mit Rohstoffen diente. Dies widerspricht der traditionellen Vorstellung, dass beim Hansehandel Fertigwaren aus dem Westen gegen Rohstoffe aus dem Osten getauscht wurden. Aufgrund einer Massierung von Importfunden auf einzelnen Novgoroder Hofgrundstücken erkennt Rybina diese als Anwesen von Kaufleuten. Ausgrabungen auf dem Territorium des Gotenhofes förderten Gegenstände des Alltagslebens seiner Bewohner aus einer Zeit zutage, in der sich der Hof in hansischem Pachtbesitz befand. Diese hier wiederholt dargelegten Ergebnisse der Autorin stellen eine gar nicht zu überschätzende Bereicherung unseres Bildes vom Handel in Novgorod dar.

Ein Zusatzkapitel mit der Darstellung der sprachlichen Beziehungen zwischen den Novgorodern und den Hansen aus der Feder der Moskauer Germanistin Ekaterina Skvajrs passt sehr gut zum Gesamttext. Außerdem wird eine ausführliche deutsche Zusammenfassung geboten (S. 250–270). Zu den Beilagen gehört eine Übersetzung der wichtigen vierten Redaktion der „Novgoroder Schra“, der Hofordnung des Hansekontors, aus dem Mittelniederdeutschen ins heutige Russisch. Schließlich folgt ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Das Buch enthält überraschend viele zum Thema passende Illustrationen. Aus der Sicht des Forschers ist jedoch das Fehlen von Belegen im Haupttext ausgesprochen nachteilig.

Norbert Angermann, Hamburg

Zitierweise: Norbert Angermann über: Elena A. Rybina: Novgorod i Ganza [Novgorod und die Hanse]. Moskva: Rukopisnye pamjatniki Drevnej Rusi, 2009. 320 S., Abb., Taf. = Velikij Novgorod, 1150. ISBN: 978-5-9551-0331-0, http://www.oei-dokumente.de/JGO/Rez/Angermann_Rybina_Novgorod_i_Ganza.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg and Norbert Angermann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.