Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  608–609

Marek Nekula, Walter Koschmal (Hrsg.) Juden zwischen Deutschen und Tschechen. Sprach­liche und kulturelle Identitäten in Böhmen 1800–1945. R. Oldenbourg Verlag München 2006. X, 297 S., 18 Abb. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 104. ISBN: 978-3-486-20039-9.

„Was hatten sie denn getan, die kleinen Juden von Prag, die friedlichsten aller friedlichen Bürger? […] In Prag warf man ihnen vor, daß sie keine Tschechen, in Saaz und Eger, daß sie keine Deutschen seien […] woran sollten sie sich denn halten?“ fragte Theodor Herzl 1897 und sah als Lösung allein den Zionismus (Theodor Herzl Die Juden Prags zwischen den Nationen, in: Das jüdische Prag. Eine Sammelschrift [1917]. Kronberg/Ts 1978, S. 7). Der Frage nach den sprachlichen, kulturellen und religiösen Identitäten der Juden in Böhmen zwischen 1800 und 1945 geht dieser Sammelband nach, der auf eine gleichnamige Konferenz im April 2003 an der Universität Regensburg zurückgeht.

16 Aufsätze illustrieren jüdisches Leben und jüdische Identitäten in Böhmen und hier besonders in Prag. Mähren und Schlesien werden ausgeblendet. Die einzelnen Studien lassen sich in sozialhistorische und sprach- bzw. literaturgeschichtliche Forschungen unterteilen. Alle gehen jedoch ähnlichen Fragen nach. Waren die Juden in der frühen Neuzeit aus der christlichen Gesellschaft in Böhmen ausgeschlossen, orientierten sie sich, alternativlos seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, an der deutschen Sprachkultur, um sich dann angesichts der erfolgreichen „nationalen Wiedergeburt“ der Tschechen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mehrheitlich an die tschechische Sprachkultur anzuschließen. Neben diesem grob vereinfachten Muster gab es Brüche und Zwischenräume, die die Identitätsbildung der Juden in Böhmen beeinflussten.

Die jüdische Emanzipation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlief parallel zur tschechischen nationalen Wiedergeburt. Während sich tschechische Intellektuelle von der deutschen ‚Leitkultur‛ zunehmend distanzierten, verlor auch das Hebräische für die säkularisierten Juden Böhmens an Bedeutung (Václav Maidl). Vereine wie die 1848 gegründete „Prager Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag“ waren für die böhmischen Juden eine der bedeutendsten Verknüpfungspunkte zur deutschen Oberschicht des Landes. Die Juden waren zugleich für die Prager Deutschen eine willkommene Verstärkung angesichts ihrer zunehmend geschwächten Situation in der immer tschechischer werdenden böhmischen Haupt­stadt (Josef Čermak). Die Sonderrolle der Prager Juden im Vergleich zu den böhmischen Landjuden, bei denen die Sprachzugehörigkeiten stärker von der Umgebung geprägt waren (Wilma A. Iggers), illustriert ein Interview mit Franz Kafkas Nichte Marianne Steiner (Hans-Gerd Koch).

Prag brachte besonders in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine ungemein dichte deutschsprachige Literaturlandschaft hervor, die weit über den bekannten Kreis um Franz Kafka und Max Brod hinausging (Anthony Northey). Der immer wieder aufflammende Antisemitismus, beispielsweise im Fall der Hilsner-Affäre, wurde als Vorzeichen eines Zivilisationsbruchs gesehen und z.B. von Franz Kafka wiederholt literarisch verarbeitet (Benno Wagner).

Die so fruchtbare deutsch-jüdische Symbiose zerbrach spätestens Mitte der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Die jüdische junge Generation schrieb sich angesichts des grassierenden deutschen Antisemitismus und der verstärkten As­similation der Prager Juden an die tschechische Gesellschaft zunehmend in die tschechischen Hochschulen der Stadt ein (Jiří Pešek).

Trotz der Polemik des Essayisten Anton Kuh (1890–1941), der die vermeintlich einzigen Alternativen Assimilation oder Zionismus scharf kritisierte (Andreas B. Kilcher), verstand sich die Mehrheit der böhmischen Juden vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges offiziell als Tschecho-Juden (Helena Krejčová). Multiple nationale Bekenntnisse waren in der Zwischenkriegszeit aber eher die Regel als die Ausnahme (Kateřina Čapková). Die nationalen und religiösen Identitätsbrüche konnten dabei mitten durch Familien gehen, wie das Brüderpaar Fran­tišek (1888–1965) und Jiří Langer (1894–1943) zeigt (Milan Tvrdík und Walter Kosch­mal).

Die berühmten Beispiele Franz Kafka (Ma­rek Nekula) und Max Brod (Hans Dieter Zim­mer­mann und Barbora Šrámková) beweisen zudem, dass die Sprachkompetenz ebenso wie die Angaben der Volkszählungen angesichts der häufigen Bi- oder Multilingualität für die Beantwortung der Frage nach der nationalen Identität nur eine geringe Aussagekraft haben.

Zum Abschluss des anregenden, gut redigierten und mit einem Personenregister versehenen Sammelbandes warnt Jürgen Serke vor posthumen nationalen Vereinnahmungen jüdischer Künstler wie Peter Kien (1919–1944) von deutscher wie von tschechischer Seite.

Alfons Adam, Prag

Zitierweise: Alfons Adam über: Marek Nekula, Walter Koschmal (Hrsg.) Juden zwischen Deutschen und Tschechen. Sprachliche und kulturelle Identitäten in Böhmen 1800–1945. R. Oldenbourg Verlag München 2006. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 104. ISBN: 978-3-486-20039-9, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 608–609: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Adam_Nekula_Juden_zwischen_Deutschen_und_Tschechen.html (Datum des Seitenbesuchs)