Im Alter von 76 Jahren ist im Dezember 2009 Professor Dr. Hans Lemberg verstorben. In ihm verliert die deutsche Geschichtswissenschaft und besonders die Ostmitteleuropa-Forschung einen herausragenden Gelehrten von nationalem und internationalem Rang.
Seit 1973 Professor an der Universität Düsseldorf wurde Hans Lemberg 1981 auf den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an die Philipps-Universität in Marburg berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung wirkte. Verbunden war er darüber hinaus dem Collegium Carolinum in München, seit 1979 als dessen Vorstandsmitglied, seit 2003 als Ehrenvorsitzender, wie auch dem Johann Gottfried Herder Forschungsrat. Letzterem stand Hans Lemberg in den Jahren 1990 bis 1996 als Präsident vor. Unvergessen wird außerdem sein Wirken im Rahmen der Deutsch-Tschechischen Schulbuchkommission, der Historischen Kommission für die Böhmischen Länder wie auch sein Engagement als Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission bleiben. Als durch die Ereignisse des Jahres 1989 ein Strukturwandel notwendig wurde, weil sich Institutionen in der Bundesrepublik nicht mehr als in Vertretung für eine freie Wissenschaft im östlichen Europa agierend verstehen konnten, gestaltete Hans Lemberg diesen Wandel führend mit und trug dadurch maßgeblich dazu bei, Einrichtungen der deutschen Osteuropa-Forschung ein neues und zukunftsorientiertes Profil zu geben.
Neben diesen Tätigkeiten darf das ungewöhnlich breite wissenschaftliche Œuvre des Verstorbenen nicht unerwähnt bleiben, deckten doch seine Schriften das 18., 19. und 20. Jahrhundert ab. Die Osteuropäische Geschichte, für die er stand, beschränkte sich nie nur auf Russland und die Sowjetunion, und stets war sie bei ihm in gesamteuropäische Zusammenhänge eingebettet. Galt seine Dissertation der nationalen Gedankenwelt der Dekabristen, so schenkte er in der Folgezeit den deutsch-tschechischen Beziehungen, der Geschichte der Ersten Tschechoslowakischen Republik, dem so genannten Protektorat und der unmittelbaren Nachkriegszeit großes Augenmerk. Der Tschechoslowakei blieb er, der aus einer Prager deutschen Familie stammte, verbunden. Noch die 2009 erschienenen Erinnerungen an Kriegskindheit und Nachkriegsjugend beginnen mit der verhüllten Prager Burg als seiner „ersten ‚politischen‛ Erinnerung“, nachdem am 14. September 1937 Tomáš Garrigue Masaryk, „der Vater unseres Staates“, gestorben war.
Standardwerke sind nicht nur viele der angesprochenen Arbeiten geworden, sondern auch die Reihenbände des von Hans Lemberg mit seinem polnischen Kollegen Włodzimierz Borodziej gemeinsam initiierten und geleiteten Großprojekts einer Dokumentation der „Geschichte der Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945‒1950“. Die Reihe, deren letzter Band 2004 erschien, wurde weit über die Fachwelt hinaus als vorbildlich für die grenzüberschreitende Aufarbeitung von Zwangsmigrationen in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gewürdigt. Mit all diesen Arbeiten hat Hans Lemberg das Geschichtsverständnis nicht nur seiner Schülerinnen und Schüler geformt, sondern vieler Menschen, die seine Schriften in die Hand nahmen oder die Gelegenheit hatten, einem seiner Vorträge zu folgen. Gerade die Breitenwirkung erzielte er als eleganter Stilist und als Redner, der sein Publikum in den Bann zu ziehen vermochte.
Letzteres gelang Hans Lemberg ganz wesentlich auch im universitären Alltag, und über seine Emeritierung in Marburg hinaus, nach der er weiterhin an der Universität Gießen lehrte. Auch griff er viele Fragen früh auf. Von nationaler Entmischung und ethnischen Säuberungen, Zwangsmigrationen und Völkermord konnte man in seinen Vorlesungen etwas lernen, lange bevor dieses Thema in aller Munde war. Die Lehre sei ihm, so bekannte er, der stets zurückhaltend mit persönlichen Äußerungen war, immer eine Herzensangelegenheit gewesen: „Das ist das Leben“ sagte er einmal. Und so gibt es viele, die nach dem Studium berufliche Wege jenseits der Universität eingeschlagen haben, sich aber seiner Lehrveranstaltungen dankbar erinnern.
Ihnen und allen, die Hans Lemberg gekannt haben, wird in Erinnerung bleiben, wie sensibel er auf Menschen zuzugehen wusste, wie ausgleichend er agierte und stets dem Humor eine Chance gab. Sein eigener war eher leise, nie bloßstellend, mit viel Sprachwitz. Doch schien ihm auch eine Tagung, bei der nicht auch einmal herzlich gelacht worden war, keine gelungene Veranstaltung zu sein. Hinzu kommt sein Zugänglichkeit: Um Kenntnisse über das östliche Europa zu vermitteln und dies zur Basis von Versöhnung zu machen, waren seine Türen immer offen. Sein Tod ist daher ein bitterer Verlust.
Zitierweise: Tatjana Tönsmeyer: Hans Lemberg - ein Nachruf, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 319-320: http://www.oei-dokumente.de/JGO/Chronik/Toensmeyer_Nachruf_Lemberg.html (Datum des Seitenbesuchs)