Zwei Umstände geben Anlass, ein an der Universität Petrozavodsk abgeschlossenes Projekt an dieser Stelle vorzustellen: Zum einen widmet es sich einer in der deutschen Russland-Historiographie nur am Rande beachteten Region, nämlich der Landschaft Karelien, im 17. Jahrhundert und ist dabei in grenzübergreifende Forschungen zu den schwedisch-finnisch-russischen Beziehungen durch die Jahrhunderte eingebunden. Zum anderen bilden Entstehungsumstände und Präsentation eine Besonderheit.
Unter der Internet-Adresse http://illmik.petrsu.ru/illmik/Archive.html findet man den Eingang zu einer Online-Publikation des Fonds der Oloneckaja voevodskaja izba, also des Amtes des Voevoden von Olonec, einer erst 1649 gegründeten Stadt am Nordostufer des Ladoga-Sees. Dieser 7000 Einheiten umfassende Bestand liegt im Archiv der Petersburger Abteilung des Institutes für Geschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Die Edition ist die Frucht der Zusammenarbeit des Archivs und der von Irina Černjakova begründeten Issledovatel’naja laboratorija lokal’noj i mikroistorii Karelii, des „Forschungslaboratoriums für Lokal- und Mikrogeschichte Kareliens“ (ILLMIK) an der Universität Petrozavodsk. Die Projektfinanzierung wurde über die Universität Joensuu in Finnisch-Karelien vermittelt.
Archivmitarbeiter in Petersburg verzeichneten unter Leitung von Vladimir Ginev den bisher gänzlich unerschlossenen Bestand; an den Computern des ILLMIK in Petrozavodsk transkribierten Aspiranten und Studierende unter der Anleitung von Irina Černjakova knapp tausend ihnen als Abbildungen vorliegende Dokumente, verfassten Erläuterungen zu Begriffen und bereiteten die Erschließung durch Register vor. Im Rahmen der Arbeit von ILLMIK und zur Gewinnung von Nachwuchs wird jährlich ein auch anderen Studierenden der Universität Petrozavodsk offenstehendes Praktikum im Petersburger Archiv angeboten. Aus der Projektarbeit ist neben der Publikation des Quellenbestandes eine Reihe von Diplomarbeiten und Kandidatendissertationen hervorgegangen.
Nach technischen Hinweisen erhält der Nutzer auf der nächsten Seite eine Einführung zum Inhalt des Bestandes und gelangt dann zum „Katalog“ mit den Zugängen zu den nach den Kästen geordeten Dokumenten. Zwei der sechs Kästen sind frei zugänglich, für die anderen ist eine Registrierung erforderlich. Dem Benutzer wird jedes Dokument als Faksimile und als Transkription präsentiert. Da diese nicht bearbeitbar ist und auch noch keine Suchmöglichkeiten angeboten werden, erhält der Benutzer, wie auch in der Einleitung zur Website gesagt, nicht mehr und nicht weniger als einen Archivbestand, dessen Sichtung er am heimischen Schreibtisch vornehmen kann. Man kann auch bei ILLMIK selbst gezielte Recherchen bestellen.
Für die allgemeine politische Geschichte dürfte der Bestand kaum neue Erkenntnisse bringen, doch er ist eine Fundgrube zu sozial-, wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen mit Bezug auf die Landschaft Karelien. Es geht um Schulden, Landstreitigkeiten, Bittschriften wegen erlittenen Unrechtes, Steuern usw. Zugleich erfahren wir viel zur Zusammensetzung der Bevölkerung, zu Topographie und Ethnographie. Die zahlreichen Konflikte meist in der Welt der „kleinen Leute“ mögen hier durch den Zusiedlungsprozess aus dem im Frieden von Stolbovo 1617 an Schweden gefallenen Nordwest-Karelien in das Gebiet zwischen Ladoga- und Onega-See verschärft worden sein. Man kann in den bis ins späte 16. Jahrhundert zurückreichenden Beständen verfolgen, wie allmählich die staatliche und kirchliche Durchdringung erfolgte, wie die einheimische Bevölkerung in die Verwaltung einbezogen wurde. Der Bestand bildet eine hervorragende Ergänzung zu Informationen aus den der Steuerbemessung und Volkszählung dienenden piscovye und perepisnye knigi.
Auf der Website von ILLMIK erscheint unter http://illmik.petrsu.ru/illmik/Journal.html die Online-Zeitschrift Žurnal otčetov i publikacij Issledovatel’noj laboratorii lokal’noj i mikroistorii Karelii. Hier findet man Berichte über Konferenzen, an denen das ILLMIK beteiligt war, und mit Abbildungen und Karten illustrierte Texte von dort gehaltenen Referaten. So gilt Heft 2/2007 (4) der Sommerschule „State and periphery in controversy. The local society formation on the Karelian borderland in a European context“ im September 2007 in Urozero bei Petrozavodsk, an der neben russischen und finnischen Studierenden und Dozenten eine Kollegin aus Schweden und ich teilnahmen. Während meines anschließenden Aufenthaltes in Petrozavodsk zu Gastvorträgen erfuhr ich mehr über die Arbeit von ILLMIK.
Schließlich sei auf die Seite http://illmik.petrsu.ru/Alkonost/history/Works.html mit teilweise auch gedruckt vorliegenden Publikationen von Irina Černjakova verwiesen, insbesondere auf die Poveneckaja tamožennaja kniga 1612 g., das „Zollbuch von Povenec [am Nordende des Onega-Sees] aus dem Jahre 1612“. Es wurde im Auftrag der schwedischen Besatzungsverwaltung in Novgorod zu jener Zeit geführt und gelangte nach dem Abzug der Schweden schließlich ins Stockholmer Reichsarchiv. Auch hier ist der Transkription das Faksimile beigegeben, darüber hinaus eine (mir redundant erscheinende) lateinische Transliteration. An der technischen Einrichtung dieser Edition war das Max Planck-Institut in Göttingen beteiligt.
Was mich an der Arbeit von ILLMIK fasziniert, sind nicht nur die daraus hervorgegangenen Quellenpublikationen und Studien, sondern auch die vielfachen Formen der Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen und die Art gleichberechtigter Einbindung von Studierenden, Nachwuchswissenschaftlern und Dozenten. Es wäre erfreulich, wenn das „Laboratorium“ seine Arbeit auch in Zukunft so erfolgreich fortsetzen könnte.
Ludwig Steindorff, Kiel
Zitierweise: Ludwig Steindorff: JGO, in: http://www.oei-dokumente.de/JGO/Chronik/Steindorff_Illmik.html (Datum des Seitenbesuchs)