Ruslan Grigor’evič Skrynnikov (1931–2009)

Am 16. Juni 2009 ist Ruslan Grigor’evič Skrynnikov in St. Petersburg gestorben. Er war Professor an der St. Petersburger Staatlichen Universität und gehörte zu den wichtigsten Erforschern des Moskauer Reiches.

Ruslan G. Skrynnikov wurde 1931 in Kutaisi (jetzt Republik Georgien) als Sohn eines Hydrotechnik-Ingenieurs und einer Lehrerin geboren. Die Kindheit und Jugend Skrynnikovs sind aber mit Leningrad verbunden. 1948 begann er sein Studium an der Historischen Fakultät der Leningrader Universität. Zu seinen wichtigsten Lehrern gehörten Boris A. Romanov und Sigizmund N. Valk, Historiker der vorrevolutionären Generation. Unter ihrem doppelten Einfluss entwickelte sich Skrynnikovs Interesse an der Quellenkunde, die für ihn entscheidend und identitätsbildend war. Wie für viele Historiker seiner Zeit war die Quellenkunde für Skrynnikov eine Nische und ein ‚Gegengift‘ gegen die ideologisch motivierten Spekulationen über die Vergangenheit.

Skrynnikov gehörte zur Tauwettergeneration. Daher braucht sein Interesse an der politischen Geschichte – ebenso wie sein Interesse an der Zeit Ivan Groznyjs – keine weitere Begründung. Nach dem Ende des Universitätsstudiums (1953) wurde ihm „Die opričnina Ivan Groznyjs“ als Promotionsthema angeboten. Skrynnikov war von dem Thema begeistert, merkte aber bald, dass entscheidende Elemente für seine Bearbeitung fehlten. Er wechselte das Thema und widmete seine Promotion, die 1958 verteidigt wurde, dem Dienstgut (pomest’e) im Novgoroder Gebiet im 15.–16. Jahrhundert. Die ungelösten Fragen der Groznyj-Zeit ließen ihn aber nicht los.

Die traditionelle Sicht der opričnina-Politik wurde von Sergej F. Platonov formuliert. Platonov zufolge war die opričnina vor allem gegen die Bojarenaristokratie gerichtet. Diese Interpretation wurde in den dreißiger und vierziger Jahren von Stepan B. Veselovskij in Frage gestellt, der zeigte, dass die repressive Politik des Zaren mehrere soziale Gruppen traf. Die Arbeiten Veselovskijs, die in der Tauwetterzeit posthum veröffentlicht wurden, sowie die damals neueste sowjetische Darstellung von Aleksandr A. Zimin bedeuteten für Skrynnikov eine doppelte Herausforderung.

Ein einmaliger Fund in den Moskauer Archiven – die Grundbücher (piscovye knigi) des Distrikts von Kazan’ – ermöglichte es Skrynnikov, eine eigene Sicht der opričnina zu begründen. Die gefundenen Dokumente bewiesen, dass die opričnina am Anfang gegen die alten Fürstenfamilien gerichtet war. Später änderte sich die Richtung der repressiven Politik, um immer neue Zielgruppen zu treffen. Um diese Veränderungen nachzuvollziehen, unternahm Skrynnikov die Rekonstruktion der Namensliste der Hingerichteten aus dem Synodikon Ivan Groznyjs (Sinodik opal’nych). Skrynnikov wies nach, dass diese Namensliste chronologisch aufgebaut ist und dass sie die Entwicklung der Repressionen aufzeigt. Drei Monographien, die der opričnina-Politik und deren Folgen gewidmet waren, wurden nacheinander 1966, 1969 und 1975 veröffentlicht, eine entsprechende Habilitationsschrift wurde 1967 verteidigt.1

Skrynnikov ist eine Rationalisierung der opričnina-Politik fremdgeblieben; er zog es vor, von der Eigendynamik des Terrors zu sprechen. Genauso fremd war ihm eine psychologisierende Geschichtsschreibung, die die pathologische Persönlichkeit des Zaren als Hauptgrund seiner Politik darstellt. Die Versuche, die opričnina-Politik als „demokratisch“ darzustellen, konnte er nur ironisieren. „Die Eigenen schlagen, um die Fremden zu ängstigen (bit’ svoich, čtoby čužie bojalis’)“ – mit dieser polemisch zugespitzten und – wie mir scheint – unveröffentlicht gebliebenen Formel nahm er dazu Stellung.

In den siebziger Jahren widmete sich Skrynnikov der „Zeit der Wirren“ (smuta), die in der Sowjetperiode als eine Art Zusammenfall von „Bauernkrieg“ und „ausländischer Intervention“ dargestellt wurde. Skrynnikov kehrte zu einem einheitlichen Bild von der „Zeit der Wirren“ zurück, die er als erster als Bürgerkrieg bezeichnete. Wie auch im Fall der opričnina tendierte Skrynnikov hier zu einer Revision des traditionellen Schwarzweißbildes. Er betrachtete die abenteuerliche Geschichte des Pseudodemetrius I. nicht als Versuch einer „Intervention“, sondern zeigte die Phasen auf, in denen die Armee des Prätendenten Züge einer Rebellenarmee annahm. Gleichzeitig unterzog er die Interpretation des Aufstands, der mit dem Namen Ivan Bolotnikovs in Verbindung steht und der in der Stalinzeit als „erster Bauernkrieg in der russischen Geschichte“ bezeichnet wurde, einer Revision. Skrynnikov belegte die Dominanz der cholopy unter den Aufständischen und die Präsenz von Provinzadligen in der Rebellenarmee. Trotzdem wollte er nicht vom Begriff des „Bauernkrieges“ abrücken. Skrynnikov zufolge entwickelte sich der „echte Bauernkrieg“ in den Grenzräumen der Tušino-Bewegung. Insgesamt plante Skrynnikov vier Bücher über die Wirrenzeit – über den ersten Pseudodemetrius, über den Bolotnikov-Aufstand, über die Tušino-Bewegung und über die beiden Aufgebote. Nur der dritte Teil dieses Plans wurde nicht realisiert, die übrigen liegen entweder als wissenschaftliche oder als populärwissenschaftliche Darstellungen vor.

Ab 1963 lehrte Skrynnikov am Leningrader Staatlichen Pädagogischen Institut, ab 1973 an der Leningrader Staatlichen Universität. An der Historischen Fakultät der Universität, in deren Räumen noch in den achtziger Jahren die gespenstischen Figuren der Teilnehmer der Hetzkampagnen der Nachkriegszeit zu sehen waren, war das Seminar Skrynnikovs eine Oase. Hier war man sachlich und kritisch, hier setzte man sich nicht mit der Ideologie auseinander, sondern man versuchte, sie nicht zu bemerken. Hier arbeiteten sowjetische und ausländische Studenten und Doktoranden zusammen – für diese Zeit eine seltene Leistung.

Ab den sechziger Jahren knüpfte Skrynnikov erste Verbindungen mit den westlichen Kollegen – zuerst mit US-amerikanischen, dann mit Osteuropahistorikern aus dem deutschsprachigen Raum und aus Frankreich. Eines seiner besten Bücher war der Polemik mit Edward Keenan über die Authentizität des Briefwechsels zwischen Ivan Groznyj und dem Fürsten Andrej Kurbskij gewidmet. Diese Polemik, die ein breites Echo in der internationalen Slawistik gefunden hat, wurde immer sachlich geführt. „Unsere Polemik mit der Harvard-Schule“ – sagte damals Skrynnikov mit leichter Ironie – diese Polemik wurde nämlich von Skrynnikov selbst und von seiner Doktorandin Ol’ga Moskvitina geführt. Die Mehrheit der Kollegen Skrynnikovs an der Fakultät wurde durch ihr geringes Interesse an der nichtrussischen Forschung vor den gefährlichen Verführungen der Harvardianer geschützt.

Skrynnikov ist nie ein Dissident gewesen, aber er traf gerne westliche Kollegen, er las ihre Publikationen, und dies war im Leningrad der siebziger Jahre genug, um unerwünscht zu sein. Dazu kam der Erfolg seiner Biographie Ivan Groznyjs, die im Zentralkomitee der KPdSU nicht gut ankam.2 Der Historiker erhielt ein Ausreiseverbot, das bis zur Perestrojka gültig war. Für Ruslan G. Skrynnikov wie für viele Vertreter seiner Generation kam die Perestrojka mit den neuen Möglichkeiten zur Teilnahme an Konferenzen im Ausland etwas zu spät.

Das universitäre Leben Skrynnikovs war nicht leicht. Zuerst ging es um persönliche Rivalitäten, weil die Popularität der Bücher Skrynnikovs einigen Kollegen ein Dorn im Auge war. Seit Anfang der neunziger Jahre, als einige Hochschullehrer sich als ‚Patrioten‘ zu inszenieren begannen, versuchten sie Skrynnikovs ausländische Doktoranden anzugreifen. Besonders gespenstisch war die Diskussion über die Dissertation von Sándor Szili, die der Darstellung der Eroberung Sibiriens in der russischen Geschichtsschreibung gewidmet war (1992). In allen diesen Auseinandersetzungen zeigte Skrynnikov Beharrungsvermögen, und er ließ sich nicht provozieren. Er fand immer wieder doppelte Zuflucht – in seinem Schreiben und in seinen Reisen. Er besuchte England, Deutschland, Italien und Ungarn, aber im Grunde war er ein sehr sesshafter Mensch. Bis zu seinen letzten Tagen lebte er in jenem Haus auf der Petersburger Insel, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Die konstruktivistische Silhouette dieses Hauses, „des Hauses der Mitarbeiter der Hydroelektrozentrale von Svir’“ (Dom specialistov Svir’stroja), die immer wieder irgendwo am Ende einer engen Straße der Petersburger Insel auftaucht, bleibt allen Besuchern seines gastfreundlichen Heims in Erinnerung.

Aleksandr Lavrov, Saint-Denis

 

(Promotion bei R. G. Skrynnikov im Jahr 1991)

Zitierweise: Aleksandr Lavrov: Ruslan Grigor’evič Skrynnikov (1931–2009), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H. 4, S. 630-632: http://www.oei-dokumente.de/JGO/Chronik/Lavrov_Nachruf_Skrynnikov.html (Datum des Seitenbesuchs)

1 Eine revidierte zweite Ausgabe wurde von Skrynnikov 1992 vorgelegt: R. G. Skrynnikov Carst­vo terrora. S.-Peterburg 1992.

2Vgl. die vom Autor erweiterte deutsche Übersetzung: R. G. Skrynnikow Ivan der Schreckliche und seine Zeit. Mit einem Nachwort von Hans-Joachim Torke. München 1992.