Walter Leitsch, langjähriger Ordinarius für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, ist kurz vor seinem 84. Geburtstag am 22. Februar 2010 in Wien gestorben.
Sein Leben und sein Schaffen spiegeln beispielhaft die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Walter Leitsch wurde 1926 in Wien geboren. Sein Vater, der jüdischer Herkunft war, musste Österreich 1938 mit seiner Familie verlassen und fand in Estland, der Heimat seiner Frau, Zuflucht. Dem Nationalsozialismus entronnen, wurde die Familie Opfer des Stalinismus. Sie wurde nach Kasachstan deportiert, wo der junge Leitsch mehr als fünf Jahre in Lagern verbrachte; sein Vater kam in dieser Zeit ums Leben. Erst nach dem Krieg gelang die Rückkehr, zunächst nach Estland, dann nach Wien. So ist Walter Leitsch in den ersten zwei Jahrzehnten seines Lebens nicht nur zweisprachig, deutsch und estnisch, aufgewachsen, sondern es kamen in der sowjetischen Gefangenschaft die russische und die polnische Sprache hinzu, die letztere vermittelt im Lager über Kontakte mit deportierten Polen. Damit war die Basis für seine Spezialisierung auf Osteuropa und für seine phänomenale Sprachbeherrschung gelegt.
Leitsch studierte an der Wiener Universität Geschichte und Slawische Philologie und wurde im Jahre 1954 zum Dr. phil. promoviert. Nach achtjähriger Tätigkeit als Universitätsassistent habilitierte er sich 1964 für das Fach Osteuropäische Geschichte. Ein Jahr später wurde er als Nachfolger des 1963 verstorbenen Heinrich Felix Schmid auf den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien berufen, den er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1996 innehatte. Walter Leitsch war wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und der Polnischen Akademie der schönen Künste in Krakau. Während mehr als drei Jahrzehnten war er Mitherausgeber der Jahrbücher für Geschichte Osteuropas.
Der Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Schaffens war die Geschichte der Diplomatie, was anlässlich seines 75. Geburtstags in dieser Zeitschrift ausführlich gewürdigt wurde (Band 49, 2001, S. 150–156; mit einem Verzeichnis seiner wissenschaftlichen Publikationen). Leitsch war jedoch kein Vertreter der herkömmlichen trockenen Diplomatiegeschichte, sondern er gewann den Quellen der auswärtigen Politik neue Facetten ab. Im Grunde ging es ihm um eine Kulturgeschichte der adligen Eliten, die er aus den diplomatischen Akten herauszulesen suchte. Seine ersten Arbeiten waren den Beziehungen des Moskauer Staates mit dem Kaiserhof im 17. und frühen 18. Jahrhundert gewidmet. Viele Jahre beschäftigte er sich mit Sigismund von Herberstein, dem österreichischen Diplomaten des frühen 16. Jahrhunderts, dessen „Moscovia“ das westliche Russlandbild für Jahrhunderte prägte. Die kosmopolitische Welt der frühneuzeitlichen Höfe wurde Leitsch zur zweiten Heimat, und er war ein profunder Kenner der Archive in Wien, Warschau, Stockholm, Moskau, Venedig, Rom und Paris. In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens arbeitete er an einem großen Werk über das Leben am Hof des polnischen Königs Sigismund III. Wasa. Er konnte das Manuskript abschließen, kurz bevor er schwer krank wurde. Das monumentale vierbändige, über 2800 Seiten umfassende Werk ist wenige Wochen vor seinem Tod im Druck erschienen (Walter Leitsch Das Leben am Hof König Sigsimunds III. von Polen. Wien: Verl. der Österr. Akademie der Wissenschaften, 2010).
Zitierweise: Andreas Kappeler: Walter Leitsch 1926–2010, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 2, S. 318: http://www.oei-dokumente.de/JGO/Chronik/Kappeler_Nachruf_Leitsch.html (Datum des Seitenbesuchs)