Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 4, S. 631-632
Der bekannte ukrainische Historiker Jaroslav Isajevyč ist am 24. Juni 2010 im Alter von 74 Jahren gestorben.
Jaroslav Isajevyč wurde im Jahre 1936 im wolhynischen Dorf Verba geboren. Sein Vater Dmytro (1889‒1973) war Mitglied der Ukrainischen Zentralrada gewesen und hatte in den Jahren 1918‒1920 diplomatische Aufgaben im Dienste der Ukrainischen Volksrepublik wahrgenommen. Nach einem Jahrzehnt in der Prager Emigration kehrte er 1930 ins polnische Wolhynien zurück, wo er zunächst als Journalist arbeitete, sich dann aber aufs Land zurückzog und der Landwirtschaft widmete. Obwohl sein Vater also keine linientreue Biographie hatte, konnte Jaroslav an der Historischen Fakultät der Universität Lemberg studieren. Seit 1958 war er am Lemberger Akademie-Institut für Gesellschaftswissenschaften beschäftigt. Er war ein Schüler des hervorragenden Historikers Ivan Kryp”jakevyč (1886‒1967), dessen Namen das Institut seit 1993 trägt. Er hielt dem multidisziplinären Institut ukraïnoznavstva imeni I. Kryp”jakevyča während mehr als einem halben Jahrhundert die Treue, seit 1989 als dessen Direktor. Dank seiner schon in der Sowjetzeit erworbenen internationalen wissenschaftlichen Reputation wurde Isajevyč zu einer Schlüsselfigur in der Neukonstituierung der ukrainischen Geschichtswissenschaft seit 1989. Erst in der unabhängigen Ukraine machte er Karriere, wurde 1992 Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Ukraine und von 1993 bis 1998 Sekretär von deren Historisch-philologischer Klasse. In derselben Periode fungierte er als erster Präsident der Internationalen Assoziation der Ukrainisten. Isajevyč war Gastprofessor an mehreren ausländischen Universitäten und trug wesentlich dazu bei, dass die ukrainische Geschichtswissenschaft international an Ansehen gewann. Besonders enge Beziehungen hatte er zu Personen und Institutionen in Polen, über die er schon in sowjetischer Zeit Zugang zu westlicher Literatur erhielt, und zum Harvard Ukrainian Research Institute.
Der wichtigste Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Schaffens war die ukrainische Geschichte der Frühen Neuzeit. Schon im Jahre 1965 erschien sein erstes Buch zur Geschichte des Buches und des Druckwesens in der Ukraine des 16. bis 18. Jahrhunderts, dem zahlreiche weitere Publikationen zu diesem Thema folgten. Damit verbunden war seine Beschäftigung mit dem Naturwissenschaftler Jurij Drohobyč, dem ersten Ukrainer, der eine Druckschrift verfasste (1483), und mit Ivan Fedorov, der in den 60er Jahren des 16. Jahrhunderts als einer der ersten Buchdrucker in Moskau wirkte (und als pervopečatnik in die russische Geschichte einging), schon bald nach Polen-Litauen auswandern musste und dort seine Tätigkeit, unter anderem in Lemberg, fortsetzte. In einem weiteren, 1966 erschienenen Werk beschäftigte sich Isajevyč mit der Geschichte der orthodoxen Laienbruderschaften von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts und ihrer Rolle in der Entwicklung der ukrainischen Kultur. Das Thema war in sowjetischer Zeit nicht so harmlos, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Zwar spielten die Bruderschaften, vor allem diejenigen von Lemberg, Kiev, Luc’k und Wilna, eine bedeutende Rolle im Widerstand der orthodoxen Stadtbevölkerung gegen den zunehmenden Druck des Katholizismus in Polen-Litauen, was gut in das sowjetpatriotische Narrativ passte. Andererseits handelte es sich um explizit religiöse Gemeinschaften, und sie übernahmen Ziele und Methoden der katholischen Bruderschaften, etwa in der sozialen Wohlfahrt und im Kirchenbau, wie auch des jesuitischen Bildungswesens in der Begründung von Schulen und Druckereien. Damit trugen sie zur kulturellen Verwestlichung der Ukraine bei. Nicht nur für dieses Werk war kennzeichnend, dass Isajevyč die historische Entwicklung der Ukraine in den gesamteuropäischen Kontext einordnete. Eine überarbeitete und von den Rücksichten auf die sowjetischen Sprachregelungen befreite englische Übersetzung erschien 2006 (vgl. die Rezension in JGO 55 [2007], S. 449‒450).
Isajevyč befasste sich außerdem mit zahlreichen weiteren Fragen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte der Ukraine, wie dem Fürstentum Galizien-Wolhynien oder der Geschichte der Städte Lemberg und Drohobyč. Mehrere Arbeiten widmete er der Geschichte der ukrainischen Historiographie und Quellenkunde. Eine Sammlung von Aufsätzen aus den Jahren 1966 bis 1995 in ukrainischer, polnischer, russischer, englischer, französischer und deutscher Sprache erschien 1996 und legt Zeugnis davon ab, wie früh sich Isajevyč in die internationale Geschichtswissenschaft einbrachte. Gelegentlich unternahm er Ausflüge in die Geschichte des 19. Jahrhunderts, u.a. des österreichischen Galiziens und der ukrainischen Nationsbildung, und in die Zeitgeschichte, so als Mitglied der polnisch-ukrainischen Historikerkommission, die sich den Problemen des ukrainisch-polnischen Verhältnisses im 20. Jahrhundert widmete. Außerdem verfasste er zahlreiche Beiträge für übergreifende Darstellungen zur Geschichte der Ukraine und zu Enzyklopädien und war Herausgeber der dreibändigen Geschichte Lembergs (2006‒2007).
Wiederholt äußerte er sich zur Frage der Kontinuität der ukrainischen Geschichte von der Kiever Rus’ zur Moderne. „Die mittelalterlichen Wurzeln der ukrainischen Nation“, so hieß der Titel des Referats, das er an einer Ukraine-Konferenz hielt, die 1991 in Deutschland stattfand (publiziert in: Guido Hausmann / Andreas Kappeler [Hg.] Ukraine: Gegenwart und Geschichte eines neuen Staates. Baden-Baden 1993, S. 31‒48). Hier kritisiert er mit Nachdruck die Begrifflichkeit der russischen und ausländischen Historiographien, die statt von der alten Rus’ vom alten Russland und der altrussischen Geschichte sprechen. Dabei reproduziert er nicht einfach die primordialen Thesen Mychajlo Hruševs’kyjs, sondern argumentiert differenziert, aber bestimmt für die Eigenständigkeit der ukrainischen Geschichte.
Zu dieser Konferenz hatte ich nicht nur Isajevyč, sondern auch seinen um zehn Jahre älteren Kollegen Jaroslav Daškevyč (1926‒2010) eingeladen, der vier Monate vor Isajevyč gestorben ist. Der Tod der beiden Lemberger Historiker markiert das Ende der postsowjetischen Periode in der Geschichte der ukrainischen Historiographie. Daškevyč, Spezialist der Geschichte der Armenier in Polen-Litauen, der ukrainischen Historiographie und Regionalgeschichte, war in sowjetischer Zeit mehrfach inhaftiert und Repressalien ausgesetzt. Er verkörperte den Typ des kompromisslosen Verfechters einer ukrainisch-nationalen Geschichtserzählung. Isajevyč nahm dagegen vermittelnde Positionen ein, die es ihm erleichterten, seine Funktionen wahrzunehmen und einen intensiven Dialog mit der internationalen scientific community zu führen. Trotz seiner zahlreichen Ämter, Führungsfunktionen und Reisen blieb Isajevyč Wissenschaftler durch und durch. Er war ungeheuer belesen, beherrschte mehrere Sprachen, unter ihnen auch die deutsche, und war ein mitreißender Redner und Diskutant, der sich zu unterschiedlichsten Themen kompetent äußerte. Er hatte zahlreiche Schüler und war wohl der im Ausland bekannteste ukrainische Historiker. Davon zeugen zwei voluminöse Festschriften, die ihm zu seinem 60. und 70. Geburtstag gewidmet wurden und an denen Kolleginnen und Kollegen aus nicht weniger als 15 Staaten mitwirkten.
Zitierweise: Andreas Kappeler: Jaroslav Isajevyč 1936–2010, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 631-632: http://www.oei-dokumente.de/JGO/Chronik/Kappeler_Nachruf_Isajevyc.html (Datum des Seitenbesuchs)