Vom 1. bis 3. Mai 2008 führte die von Ludwig Steindorff und Martin Aust organisierte X. Internationale Konferenz zur altrussischen Geschichte 20 Historikerinnen und Historiker aus Russland, Deutschland, Frankreich und Großbritannien sowie aus den USA in Kiel zusammen, wo sie als Gäste der Christian-Albrechts-Universität den übrigen Tagungsteilnehmern ihre neuesten Forschungsergebnisse vorstellten. Die Konferenz, die dankenswerterweise von der Fritz-Thyssen-Stiftung finanziert wurde, war dem komplexen Verhältnis von Religion und Integration im Moskauer Russland vom 14. bis zum 17. Jahrhundert gewidmet. Das genannte Konferenzthema war gewählt worden, weil die von Andreas Kappeler 2003 in Wien ausgerichtete IX. Internationale Konferenz zur altrussischen Geschichte die „Geschichte des Moskauer Rußland aus der Perspektive seiner Regionen“ zum Thema hatte, so dass es nahelag, auf der darauf folgenden Tagung das Moskauer Russland aus dem entgegengesetzten Blickwinkel zu betrachten und nach den Ideen und Kräften zu fragen, die dieses Reich und seine Gesellschaft zusammenhielten. Diese Perspektive kann nicht nur auf eine bis zu Sigismund von Herbersteins „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ zurückreichende Diskussionstradition zurückblicken, sondern sie fügt sich auch bestens in die gegenwärtige historische Forschung ein, genießt hier doch das Thema „Integration“ insgesamt außerordentliche Aufmerksamkeit. Da der Religion im gesamten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa zentrale Bedeutung bei der Legitimation von Herrschaft und bei der Integration von Gesellschaften zukam und folglich Integrationsprozesse im frühneuzeitlichen Europa in der historischen Forschung der letzten Jahre in erster Linie auf der Ebene der Religion beschrieben und daher auch unter dem Oberbegriff der „Konfessionalisierung“ abgehandelt werden, erschien das gewählte Konferenzthema für die aktuelle Altrussland-Forschung besonders ergiebig, zumal vor dem Hintergrund, dass die Religionsgeschichte in den letzten Jahrzehnten zuerst im Westen und – seit dem Ende der Sowjetunion 1991 – auch in Russland eine beeindruckende Renaissance erfahren und viele neue Erkenntnisse zutage gefördert hat. Und als fruchtbar erwies sich die Themenstellung in der Tat, wie die in den Vorträgen präsentierten neuen Forschungserkenntnisse, die Bandbreite der behandelten Themen und die jeweils im Anschluss an die Tagungsbeiträge lebendig, zum Teil kontrovers geführten Diskussionen zeigten. Diese Diskussionen wurden mit Sicherheit auch dadurch begünstigt, dass gemäß der Tradition der Internationalen Konferenzen zur Geschichte Altrusslands auch dieses Mal die Teilnehmer aufgefordert worden waren, ihre Aufsatzmanuskripte für den später im Rahmen der „Forschungen zur osteuropäischen Geschichte“ zu publizierenden Tagungsband rechtzeitig vor Konferenzbeginn einzureichen, so dass alle Teilnehmer die Möglichkeit hatten, sich vorab mit den Vortragsinhalten vertraut zu machen. Der zeitliche Schwerpunkt der in deutscher, russischer, englischer und französischer Sprache gehaltenen Vorträge lag im 16. und 17. Jahrhundert, also in der Zeit, die üblicherweise als Altrusslands „Schwelle zur Frühen Neuzeit“ bezeichnet wird. Vier wesentliche Ergebnisse und ein Desiderat können als Resultat der Kieler Konferenz festgehalten werden.
Der erste Befund hebt auf die Ambivalenz der Religion in integrationsgeschichtlicher Perspektive ab. Religion kann als ein Ordnungssystem begriffen werden, das Integration bewirkt, indem es Gemeinschaft sakral begründet. Gleichzeitig jedoch ist das integrative Potential einer Religion gerade in multireligiösen Konstellationen begrenzt. Dies gilt insbesondere für das Moskauer Russland, dessen Untertanen sich nicht nur zur Orthodoxie und zu Naturreligionen, sondern – zumindest seit Mitte des 16. Jahrhunderts – auch zu anderen christlichen Konfessionen sowie zum Islam bekannten.
Zweitens haben insbesondere verschiedene Varianten des historischen Vergleichs auf der Konferenz eindrücklich vor Augen geführt, weshalb dem Konfessionalisierungsparadigma, das die Frühneuzeitgeschichtsschreibung über das westliche Europa, das Heilige Römische Reich und Polen-Litauen nachhaltig geprägt und befruchtet hat, in der Geschichte des Moskauer Russlands kaum Gültigkeit zukommt. Die Vergleiche, die insbesondere Ludwig Steindorff, Michail Krom und Russell E. Martin vornahmen, belegen partielle Ähnlichkeiten des Moskauer Russlands mit dem Frankenreich, dem römisch-deutschen Reich in der Stauferzeit sowie dem spätmittelalterlichen wie auch frühneuzeitlichen Frankreich. Die Eigentümlichkeit der Moskauer Religionsgeschichte zeigt sich damit in einer Vielzahl von Vergleichsfällen und nicht in der eindeutigen Verortung in der frühneuzeitlichen Konfessionsgeschichte.
Drittens hat ein Blick auf die verschiedenen Außenwelten und ihre Verknüpfungen mit dem Inneren des Moskauer Russlands das Bewusstsein für die Komplexität der Integration des Moskauer Russlands in religiös-politischer Hinsicht erheblich geschärft. Die diplomatischen Beziehungen Moskaus zu nicht-orthodoxen christlichen und muslimischen Nachbarn hatten stets auch in Rechnung zu stellen, dass sich Angehörige dieser Religionen im Moskauer Reich aufhielten. Das durchaus protonationale Integrationspotential der russischen Orthodoxie musste somit stets aufs Neue mit Integrationspraktiken abgestimmt werden, die nach Maßgabe der heutigen Nomenklatur als imperial zu kennzeichnen sind.
Viertens schließlich haben die Beiträge und Diskussionen auf der Konferenz geholfen, den zugrunde gelegten Integrationsbegriff zu schärfen. Die anfänglichen Vorgaben der Organisatoren hatten dazu aufgefordert, das spannungsreiche Verhältnis von Religion und Integration zwischen den Polen von Normen, Praktiken, Potentialen und Grenzen zu verorten. Auf der Konferenz sind darüber hinaus die unterschiedlichen sozioräumlichen Ebenen wie auch der prozesshafte Charakter von Integration deutlich geworden. Religiös induzierte oder zumindest intendierte Integrationsvorgänge ließen sich auf zahlreichen Ebenen, vom Reich und seiner Dynastie über die Gemeinschaft der Orthodoxen bis hin zu einzelnen Regionen und Klostergemeinschaften nachvollziehen. In chronologischer Perspektive wiederum erschien die Integration als unendliche Geschichte, in der die genannten Gemeinschaften stets vor neue Aufgaben gestellt waren. Integration stellte sich dabei insgesamt als Versprechen auf die Stabilität sozialer, räumlicher und zeitlicher Zusammenhänge dar, derer sich die Menschen stets aufs Neue zu vergewissern hatten.
Als weiteres Resultat der Konferenz bleibt zum Schluss festzuhalten, dass bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex der Konferenz nach wie vor die Erforschung der alltagsgeschichtlichen Dimension, der Geschichte der Lebenswelten und Erfahrungen, als Desiderat zu gelten hat.
Die Konferenzteilnehmer und ihre Vorträge: Pierre Gonneau L’église face aux crises dynastiques en Moscovie. XV–XVIIe s. / Michail Krom Religiozno-nravstvennoe obosnovanie administrativnych preobrazovanij v Rossii XVI veka / Russell E. Martin Gifts and Commemoration: Donations to Monasteries, Dynastic Legitimacy, and Remembering the Royal Dead in Muscovy (7159/1651) / Andrej P. PavlovCerkovnaja ierarchija v sisteme gosudarstvennoj vlasti Rossii v konce XVI – načale XVII vv. / Paul Bushkowitch Orthodoxy and Islam in Russia or ‚A Cat Without a Grin’ / Aleksandr Filjuškin Religioznyj faktor v russkoj vnešnej politike XVI veka: Ksenofobija, tolerantnost’ ili pragmatizm? / Aleksandr S. Lavrov Protopop Daniil Temnikovskij – ‚revnitel’ blagočestija’ i missioner / Bulat R. Rachimzjanov Muslim uluses of Muscovy: Religious Tolerance of Steppe of the XV–XVI centuries / Christoph Witzenrath Imperial Culture and the Redemption of Captives and Slaves in 16th–17th-century Russia / Petr S. Stefanovič Religioznyj dialog meždu angličaninom i pskovskim gorožaninom / Ludwig Steindorff Donations and commemorations in Muscovy – a medieval or an early modern phenomenon? / Lilija Berezhnaya Cossacks’ ‚Antemurale Christianitatis’ in the 17th century. Views from inside and outside / Aleksej Alekseev Razmyšlenija o eresi židovstvujuščich / André Berelowitch Theological Dispute and Integration in mid-XVIIth century Muscovy: the Argument about Pseudo-Dionysius the Areopagite and negative Theology / Reinhard Frötschner Vom Novgoroder Regional- zum Moskauer Reichskult. Die Verehrung der Gottesmutterikone von Tichvin als Mittel zur Herrschaftslegitimation und territorialen Integration im Moskauer Staat des 16. Jahrhunderts / Frank Kämpfer Von der Selbst-Findung zur Selbst-Isolierung der russischen Orthodoxie / Vladislav Nazarov Religija pri Dvore kak institut i instrument integracii znati i privilegirovannych sloev knjažestv Severo-Vostočnoj Rusi (seredina XV – pervaja polovina XVI vv.) / Gail Lenhoff The Chudov Monastery and the ‚Stepennaja kniga’ (1555–1563) / Angelika Schmähling Vom Nutzen der Klausur: Religiöse und gesellschaftliche Funktionen der Frauenklöster in Russland (16.–18. Jahrhundert) / Pavel V. Sedov Izmenenija predstavlenij o vremeni v Rossii vo vtoroj polovine XVII – načale XVIII v. (po perepiske monastyrskogo strjapčego).
Martin Aust, Kiel
Reinhard Frötschner, Regensburg/München
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