Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexa von Winning

 

Scott M. Kenworthy: The Heart of Russia: Trinity-Sergius, Monasticism, and Society after 1825. New York; Washington, D.C.: Oxford University Press; Woodrow Wilson Center Press, 2010. XV, 528 S., 14 Tab., 26 Abb. ISBN: 978-0-19-973613-3.

Seit einigen Jahren wird Religion als zentrales Phänomen des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt und in geschichtswissenschaftlichen Gesamtdarstellungen zunehmend prominent platziert. Das Zarenreich und die russische Orthodoxie bilden dabei keine Ausnahme, wie die schnell wachsende Religionsforschung zeigt. Die Orthodoxie erfährt eine grundlegende Neubewertung: Sie wird nicht mehr als überkommene Bastion der Autokratie dargestellt, sondern als vitale, anpassungsfähige Kraft, die ihre Bedeutung in der sich rapide wandelnden russischen Gesellschaft erhalten und sogar erneuern konnte. Unter dem Stichwort der „lived religion“ rücken vermehrt Glaubenspraktiken der Gläubigen und Geistlichen ins Blickfeld.

Diese Forschungstendenzen greift Scott Kenworthy in seiner beeindruckenden Monographie zum orthodoxen Klosterwesen auf. Kenworthy wählt einen mikrohistorischen Zugang; er konzentriert sich auf das Dreifaltigkeits-Sergius-Kloster (Troice-Sergieva Lavra), das größte und berühmteste Kloster der russisch-orthodoxen Kirche. Wie das orthodoxe Klosterwesen im Ganzen, erlebte das Dreifaltigkeits-Sergius-Kloster von ca. 1825 bis 1914 einen bemerkenswerten Wiederaufstieg, der sich vor allem an der rasanten Zunahme der Zahlen von Mönchen und Pilgern ablesen lässt. Dieses „remarkable revival“ (S. 18) sei die entscheidende Grundlage für die Popularität und Vitalität der gesamten russischen Orthodoxie gewesen, so Kenworthys zentrale These. Zudem habe das Klosterwesen die Orthodoxie selbst entscheidend verändert: Pilgerfahrten hätten sich zur „central expression of religious devotion“ (S. 171) entwickelt, und spezifische Elemente des Klosterlebens, beispielsweise die Verehrung der „spirituellen Ältesten“ (starcy), seien so populär geworden, dass sie längerfristig als Quintessenz orthodoxer Spiritualität angesehen wurden.

Im ersten Teil des Buches analysiert Kenworthy die Merkmale und Ursachen dieses Wiederauflebens. Unter der Führung von Metropolit Filaret (Drozdov, 1782–1867) und Archimandrit Antonij (Medvedev, 17921877) erlebte das Dreifaltigkeits-Sergius-Kloster fundamentale Veränderungen: „The brotherhood quadrupled in size, the monastery’s budget dramatically expanded, its philanthropic engagements proliferated, pilgrimage skyrocketed.“ (S. 70, Kap. 2) Neben dieser aktiven, wohltätigen Klosterausrichtung kennt das heterogene orthodoxe Klosterwesen eine stärker kontemplative, zurückgezogene Strömung, den Hesychasmus. Auch diese Strömung erlebte eine Blütezeit, was sich im Dreifaltigkeits-Sergius-Kloster in der Gründung zahlreicher Tochtergemeinschaften niederschlug: Abgeschiedenheit und Stille waren im geschäftigen Hauptkloster schwerlich zu finden, sodass sich ein Teil der Brüder in abgelegene Wälder zurückzog (Kap. 3).

Zur Erklärung des Wiederauflebens zieht Kenworthy sowohl innerreligiöse Entwicklungen als auch den gesellschaftlichen Kontext heran. Mönche und Pilger waren die wichtigsten Trägergruppen des Klosterrevivals. Für beide Gruppen hebt Kenworthy hervor, dass sich eine „Demokratisierung“ ereignet habe: Der Klostereintritt wie der Klosterbesuch hätten sich von einem Elite- in ein Massenphänomen verwandelt (Kap. 4 und 5). In dieser gelungenen Öffnung für die unteren Gesellschaftsschichten und ihre spirituellen Bedürfnisse sieht Kenworthy den zentralen Schlüssel für den großen Erfolg, den das Klosterwesen inmitten der gesellschaftlichen Modernisierung erlebte. Als zweite Ursache nennt er geistesgeschichtliche Entwicklungen: Die Suche nach genuin russischen Elementen in Gesellschaft und Kultur, die das Zarenreich nach 1812 verstärkt erfasste und beispielsweise in der Bewegung der Slavophilen einen Ausdruck fand, habe sich auch in der religiösen Sphäre niedergeschlagen und dort zur Wiederentdeckung des Klosterwesens geführt.

Der zweite Teil des Buches ist der Entwicklung ab den 1890er Jahren gewidmet, als das „golden age of the monastic revival“ (S. 137) zu Ende ging. Zunächst waren es Sorgen über schwindende Disziplin sowie heftige innerkirchliche und öffentliche Debatten über die Rolle der Kloster in der russischen Gesellschaft, die das Dreifaltigkeits-Sergius-Kloster überschatteten (Kap. 6). Die polarisierte Atmosphäre der Jahre 1905–1917 intensivierte diese Krisenstimmung: Zwar ging das spirituelle Leben weiter seinen Gang, und auch die Pilgerströme brachen bis 1914 nicht ein, aber drastisch sinkende Einnahmen und die zunehmende Entfremdung zwischen Kirchenführung und Autokratie stellten die Klosterführung vor Herausforderungen (Kap. 7).

Die letzten beiden Kapitel sind dem Dreifaltigkeits-Sergius-Kloster unter bolschewistischer Herrschaft gewidmet: Während die abgelegenen Gemeinschaften von der Oktoberrevolution zunächst wenig berührt wurden, wurden das Hauptkloster in ein staatliches Museum umgewandelt und die Mönche ausgewiesen. Viele von ihnen siedelten sich in der Umgebung an, führten ihr religiöses Leben fort und zogen weiterhin Pilger an. Erst die Verschärfung der antireligiösen Politik ab 1928 und schließlich der Große Terror, dem zahlreiche Mönche, Nonnen und Geistliche zum Opfer fielen, setzten diesen Fortsetzungen ein Ende (Kap. 8 und 9). Doch auch dieses Ende war nur ein befristetes: Schon 1946 konnte ein Teil des Klosters wiedereröffnet werden, und die Pilgerfahrten begannen erneut. Ein knapper Ausblick bis zur Gegenwart zeigt, welche Bedeutung das Kloster für orthodoxe Gläubige bis heute hat: „The story of the Trinity-Sergius Lavra lives in the collective consciousness of Russians as representative of the nation’s history […].“ (S. 385).

Das Dreifaltigkeits-Sergius-Kloster ist schon aufgrund seiner herausgehobenen Rolle im religiösen Leben des 19. Jahrhunderts und seiner Bedeutung als nationales Symbol eine Untersuchung wert. Der mikrohistorische Blick ist aber noch in anderer Hinsicht lohnend: Klöster sind einerseits Teil der offiziellen kirchlichen Institutionenlandschaft, sie zeichneten sich im 19. Jahrhundert andererseits auch durch das enge Zusammenwirken von Laien, Mönchen und Klosterführung aus. Kenworthy hat so einen anschaulichen und produktiven Weg gefunden, um die oft kritisierte dichotomische Gegenüberstellung von „institutioneller“ und „populärer“ Orthodoxie zu überwinden.

Das eindrucksvollste Merkmal dieses Buches ist der enorme Materialreichtum: Die Darstellung stützt sich auf eine reiche Quellenbasis, die u.a. Korrespondenz, Memoiren, statistische Unterlagen, Verhörprotokolle, Presseerzeugnisse und Synodalakten aus zahlreichen Beständen umfasst. Kenworthy fügt diese breite Grundlage zu einer überzeugenden Studie zusammen, die vor allem in den ersten Kapiteln glänzt. Mit dem Ende der Blütezeit des Klosterwesens gerät der Autor in Schwierigkeiten: In den letzten Kapiteln verliert sich Kenworthy zuweilen dabei, die Einzelheiten der sprunghaften bolschewistischen Religionspolitik nachzuverfolgen, ohne daraus analytische Rückschlüsse zu ziehen. An manchen Stellen wäre zudem eine pointiertere Interpretation des Materials wünschenswert gewesen. Die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Religion und Moderne wird beispielsweise nur am Rande gestreift. Kenworthys Pionierarbeit bietet aber einen hervorragenden Ausgangspunkt, um diese und andere Aspekte in weiteren Forschungen zu vertiefen.

Alexa von Winning, Tübingen

Zitierweise: Alexa von Winning über: Scott M. Kenworthy: The Heart of Russia: Trinity-Sergius, Monasticism, and Society after 1825. New York; Washington, D.C.: Oxford University Press; Woodrow Wilson Center Press, 2010. XV, 528 S., 14 Tab., 26 Abb. ISBN: 978-0-19-973613-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Winning_Kenworthy_Heart_of_Russia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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