Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Christophe von Werdt
Elena Temper: Belarus verbildlichen. Staatssymbolik und Nationsbildung seit 1990. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012. 332 S., 52 Abb., 22 Taf. = Visuelle Geschichtskultur, 7. ISBN: 978-3-412-20699-4.
Temper beginnt ihre Monographie zur „Bedeutung des Symbolischen bei der nationalen Identitätsbildung“ (S. 29) mit zwei sehr ausführlichen, auf ihren eigentlichen Gegenstand hinführenden Kapiteln. Diese umfassen gemeinsam mehr als hundert Seiten – also wesentlich mehr als ein Drittel ihres Textes. Sie präsentiert darin auf der einen Seite den theoretischen Hintergrund und den Forschungsstand zur Konstruktion kollektiver, nationaler Identitäten und zur Formierung eines historischen Gedächtnisses mittels Symbolen und visueller Repräsentationen. Überdies widmet sie in diesem ersten Teil mehr als 50 Seiten der Darstellung, wie sich die belarusische Nationalbewegung seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt hat. Dieser Abschnitt ist sehr stark faktographisch und insgesamt zu detailliert geraten, zudem erscheint er für einen einführenden Überblick zu lang. Er lässt eine klare, analytische Akzentsetzung und einen deutlichen Bezug zum eigentlichen, „ikonozentrischen“ (S. 22) Thema des „Verbildlichens“ zum Zweck der Identitätskonstruktion vermissen. So hätte man hier beispielsweise etwas zur Denkmalpolitik oder zu visuellen Gedächtnisorten der verschiedenen historischen Ansätze erwarten dürfen, die vor dem ausgehenden 20. Jahrhundert auf dem Gebiet von Belarus bestrebt waren, einen gesellschaftlichen Gedächtnisraum zu schaffen. Diese Fragen werden jedoch trotz der Länge des Kapitels nicht einmal gestreift.
Im zweiten Teil der Monographie nähert sich die Autorin nun ihrem eigentlichen Thema an – der Repräsentation des Nationalen in der visuellen Kultur und der „Ikonographie des öffentlichen Raumes“ in Belarus (S. 19). Annähernd 100 Seiten widmet sie dabei den gleichsam höchsten Symbolen von Staat und Nation: der Staatsfahne, dem Staatswappen und der Staatshymne. Viel Interessantes erfährt man dabei über deren historische Herleitung und heraldische Hintergründe sowie die damit verbundenen Interpretationen. Natürlich stehen hierbei der Wechsel der staatsoffiziellen Symbolik während der frühen neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit dem Versuch der Reaktivierung historischer, vorsowjetischer Symbolwelten („nationales Projekt“), beziehungsweise später die Rückkehr bzw. Uminterpretation zu Versatzstücken sowjetischer Symbolik in der Zeit nach dem Machtantritt von Lukašėnka 1994 („postsowjetisches und prorussisches Projekt“) im Zentrum. Da es jedoch diese Wappen, Flaggen und Hymnen nicht geschafft haben, die belarusische Gesellschaft über einen rein intellektuellen Diskurs hinaus zu mobilisieren, bleiben die Ausführungen zu diesen Symbolen letztlich etwas menschenleer – genauso, wie die belarusische Nationalbewegung es in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch nicht vermochte, die Menschen für ihr Programm einzunehmen.
Aufschlussreich und spannend ist der letzte Teil des Buches, der sich mit „postsowjetischen Erinnerungslandschaften“ beschäftigt. Er erstreckt sich jedoch insgesamt nur gerade über 60 Seiten. Temper kontrastiert hier auf verschiedensten, nicht nur visuellen Ebenen (zum Beispiel über Denkmäler, Schulbücher, Feiertage) zwei politisch gegensätzliche Erinnerungsorte. Auf der einen Seite steht das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und die belarusische Partisanenbewegung. Sie wurden in der Nachkriegszeit von der „nationalen“ kommunistischen Partei gegen den hinhaltenden Widerstand Moskaus geschickt zum zentralen Mythos der Belarussischen Sowjetrepublik (BSSR) verdichtet. Auf der anderen Seite hat den Wald um Kurapaty die „nationale“ Opposition seit den späten achtziger Jahren zum bekannten Symbol für die Repressionen des sowjetischen Systems auf dem Gebiet der BSSR gemacht.
Am Ende legt man das Buch mit etwas ungestilltem Hunger nach mehr weg: Denn die letzten elf Seiten der Monographie zu „visuellen Rhetoriken im öffentlichen Raum“ bilden den positiven Höhepunkt. Sie liefern das, worauf zumindest der Rezensent die ganze Zeit gehofft hatte – Informationen über den Einsatz von Symbolen und Bildern im lebendigen gesellschaftlichen Identitätsdiskurs jenseits von entrückten Staatsfahnen und -wappen. Dabei kommen erstmals auch Medien wie das Fernsehen, Plakate, Denkmäler, Architektur, Pop-Konzerte, Jugendanlässe usw., die die belarusische Gesellschaft für das eine oder andere Identitätskonzept zu mobilisieren versuchen, zur Sprache. Des Eindrucks kann man sich deshalb nicht erwehren, dass dieser Abschnitt, der vielleicht im Zentrum der Abhandlung hätte stehen können, zuletzt noch ergänzt wurde. Er hätte den wertvollen Ausgangspunkt für die Forschungen der Autorin bilden können. Wären diese Ausführungen am Anfang der konzeptionellen und ideenleitenden Überlegungen der Monographie gestanden, hätte wohl viel für das Dissertationsprojekt gewonnen werden können.
Zu guter Letzt erstaunt für eine Studie, die sich mit der Bedeutung von Symbolen für die Repräsentation und Konstruktion eines nationalen Gedächtnisses beschäftigt: An keiner Stelle reflektiert die Autorin die Verwendung des deutschen Begriffes „belarussisch“ anstelle beispielsweise von „belarusisch“ in ihrem eigenen Text – obwohl sie sich hiermit gerade mitten ins Zentrum des weissrussischen / belarussischen / belarusischen Identitätsdiskurses begibt.
Zitierweise: Christophe von Werdt über: Elena Temper: Belarus verbildlichen. Staatssymbolik und Nationsbildung seit 1990. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012. 332 S., 52 Abb., 22 Taf. = Visuelle Geschichtskultur, 7. ISBN: 978-3-412-20699-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Temper_Belarus_verbildlichen.html (Datum des Seitenbesuchs)
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