Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Religion, Nation, and Secularization in Ukraine. Ed. by Martin Schulze Wessel / Frank E. Sysyn. Edmonton, Toronto: CIUS, 2015. XI, 174 S. ISBN: 978-1-894865-38-8.

Der vorliegende Sammelband geht zurück auf eine Konferenz des Jahres 2010 in München. Seine Beiträge wurden bereits einmal im Journal of Ukrainian Studies (Jg. 37, 2012) veröffentlicht. Wegen des gesteigerten Interesses für nationale und religiöse Themen in der Ukraine und vor dem Hintergrund der ukrainisch-russischen Krise entschlossen sich die Herausgeber, die Studien nochmals als separate Publikation herauszugeben. Ob dieser Entscheid zur eigenständigen Neuauflage richtig war, könnten nur die Verkaufszahlen belegen. Jedenfalls richtet sich der Inhalt mehr an ein enges Fachpublikum, das wohl mit einer Fachzeitschrift erreicht wird. Auch wenn der Titel des Buches verspricht, ein weites thematisches Feld aufzuarbeiten, so bilden seinen Inhalt – wie für einen Sammelband durchaus üblich – inhaltlich recht disparate Detailstudien, für die mit dem Titel eine gemeinsame Klammer gefunden werden musste.

Der einzige Beitrag, der sich nicht ausschließlich auf einen „ukrainischen“ Gegenstand konzentriert und auch diachron (vom 17. bis ins 19./20. Jahrhundert) angelegt ist, stammt von Kerstin S. Jobst. Sie untersucht in einem aufschlussreichen Artikel, welchen transnationalen und transkonfessionellen – und nicht zuletzt geographischen – Wechselläufen die Verehrung des ersten griechisch-katholischen Heiligen Josaphat Kuncevyč (1580–1623) im Laufe der Jahrhunderte unterlag. Sie zeichnet nach, wie dieser „Märtyrer“ der unierten Kirche in wechselnden Zusammenhängen als Kristallisationspunkt staatlich-konfessioneller (zur Zeit Polen-Litauens im 17. Jahrhundert) und nationaler (polnischer, später auch ukrainischer) Identitäts-, Einschluss- und Ausschlussdiskurse und -versuche gegenüber Russland und der orthodoxen Kirche, aber auch im polnisch-ukrainischen Verhältnis diente.

Burkhard Wöller behandelt, seinem bisherigen Forschungsschwerpunkt entsprechend, ein historiographisches Thema. Er untersucht, wie polnische und ukrainische Historiker zwischen den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg die Kirchenunion von Brest (1596) in ihren Werken beurteilt haben. Nicht völlig überraschend kommt er dabei zu dem Ergebnis, dass diese Urteile standortgebunden ausfielen. Polnische Autoren standen der Union eher positiv gegenüber und interpretierten sie als – wenn auch ungenügend genutzte – Chance und zivilisatorische Aufgabe des vormodernen polnischen Staatswesens. Ukrainische Historiker beurteilten die Union demgegenüber eher skeptisch, weil sie in ihr Tendenzen zur Schwächung und Spaltung der ruthenischen Nation angelegt sahen.

Mit der Herausbildung der modernen ukrainischen Standardsprache beschäftigt sich Michael Moser. Er hinterfragt die vorherrschende Meistererzählung, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausschließlich Nicht-Geistliche aus dem russischen Zarenreich mit ihren Schriften die Grundlagen für die moderne ukrainische Standardsprache gelegt hätten, indem sie sich sprachlich an den lokalen Idiomen orientierten und diese verschriftlichten. Mitnichten streitet er die Bedeutung dieser Autoren für den Prozess ab – er bemerkt allerdings auch kritisch, dass deren Beitrag teilweise durch moderne editorische „Manipulation“ ihrer Texte geschönt wurde. Er weist überdies auf die zu wenig beachteten frühen Publikationen griechisch-katholischer Geistlicher aus Galizien hin, die besonders mit ihren nicht-religiösen Veröffentlichungen, mit denen sie die bäuerliche Bevölkerung zu erreichen hofften, ebenfalls eine entsprechende Grundlagenarbeit leisteten.

Unter Hinweis auf einen möglichen Vergleich mit der griechisch-katholischen Geistlichkeit in Galizien analysiert Tobias Grill die „modernisierende“ Rolle einiger Rabbis in den ukrainischen Gebieten des österreichischen und russischen Kaiserreiches. Den Schwerpunkt seiner Ausführungen legt der Autor auf die Städte Lemberg und besonders Odessa. Unter dem Einfluss der deutschen jüdischen Aufklärung setzten dort einzelne herausragende Rabbi-Persönlichkeiten mit der Unterstützung fortschrittlich gesinnter Teile ihrer Gemeinden im Verlauf des 19. Jahrhunderts zahlreiche Reformen durch. Diese betrafen insbesondere Sprache und Form der Liturgie, das Schulwesen und die Armenfürsorge. Eine nicht unwesentliche Absicht dieser Neuerungen war es, die jüdischen Gemeinden und deren Ansehen in den Augen der christlichen Umgebung aufzuwerten und damit eine Annäherung im Sinne der Akkulturation auf den Weg zu bringen. So sollte beispielsweise die Einführung des Deutschen bzw. des Russischen in den Synagogen durch die Transparenz, die damit entstand, antijüdische Vorurteile über den Charakter des Judentums ausräumen. Mit dem offensichtlichen Scheitern dieser Bemühungen angesichts antijüdischer Pogrome im ausgehenden 19. Jahrhundert gewann schließlich der Zionismus als nationale Variante der Emanzipation gegenüber der aufklärerischen Richtung immer mehr die Oberhand.

Der Aufsatz von Frank E. Sysyn behandelt auf der Basis von autobiographischen Aufzeichnungen die Gedankenwelt eines gebildeten griechisch-katholischen Dorfgeistlichen. Dieser, Mychajlo Zubryc’kyj (1856–1919), bewegte sich in zwei Welten. Einerseits in der einfachen, bäuerlichen Lebenswelt seiner Gemeindemitglieder im Karpatenraum, die er zu aufgeklärten, aufgeschlossenen und wohlhabenden ukrainischen Patrioten formen wollte; anderseits war er Teil der intellektuellen ukrainischen Gebildetenschicht, die das Leben des einfachen Volkes erforschte und darüber publizierte. Diese Einzelbiographie ist, gerade weil sie gut dokumentiert ist, aufschlussreich für das Selbstverständnis sowie das Wie und Was des Wirkens von Teilen der einfachen griechisch-katholischen Gemeindegeistlichkeit unter der bäuerlichen Bevölkerung weit über die religiöse Sphäre hinaus.

Im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Wirken von Mychajlo Zubryc’kyj an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert steht ein Oral History-Projekt, das im Beitrag von Leonid Heretz vorgestellt wird. Weil Zubryc’kyj für den Ort seiner Tätigkeit ein dichtes und deshalb außergewöhnliches Netz von Quellen zur Lebenswelt der Dorfbewohner hinterlassen hat, begannen Heretz und Frank E. Sysyn im Rahmen ihres Forschungsprojekts in dieser Region der Karpaten strukturierte Interviews mit der lokalen Bevölkerung durchzuführen – und dies bereits 1986 zu sowjetischer Zeit. Dass die Vorfahren der beiden Historiker selbst aus dieser kleinen dörflichen Welt der Boiken stammten, erleichterte ihnen den Zugang und ermöglichte eine speziell offene Gesprächssituation mit ihren Diskussionspartnern. Gegenstand der Analyse in diesem Beitrag ist konkret das Vordringen der Moderne in die Bereiche des religiösen (Aber-)Glaubens und der kirchlichen Autoritätsgläubigkeit unter der Dorfbevölkerung während der Zwischenkriegszeit.

Liliana Hentosh beschäftigt sich, aufbauend auf ihrer ukrainischen Dissertation, mit der Positionierung des Vatikans unter dem Pontifikat Benedikts XV. gegenüber den nationalen Entwicklungen im Osten Europas während und nach dem Ersten Weltkrieg. Sie konstatiert eine bejahende Offenheit des Papstes in der Auseinandersetzung mit den aktuellen Fragen des Nationalismus und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Diese theoretische Stellungnahme wurde im polnisch-ukrainischen Konflikt und Krieg um die Ausgestaltung der konkurrierenden Nationalstaaten auf die praktische Probe gestellt. Die Kurie machte sich darin – nicht zuletzt mit Blick auf die potentiellen Entwicklungschancen für den katholischen Glauben im ostkirchlichen Russland – tendenziell zum Fürsprecher der schwächeren ukrainischen und griechisch-katholischen Seite gegen den auch von der polnischen katholischen Kirche mitgetragenen expansiven polnischen Nationalismus. Zugleich war sie angesichts der Bedeutung des Polentums für die katholische Welt ausgleichend um Vermittlung zwischen den beiden Parteien bemüht.

Mit Fragen der Kalenderreform in der griechisch-katholischen Kirche – das heißt mit der Einführung des gregorianischen anstelle des julianischen Kalenders – beschäftigt sich der Beitrag von Oleh Pavlyshyn. Seine Untersuchung konzentriert sich dabei auf den Zeitraum vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre und nimmt neben Galizien auch die Emigration in den Blick. Zugleich verfolgt er die Diskussion des Themas ansatzweise noch bis in die Gegenwart. Praktische und ökonomische Überlegungen einer zunehmend städtisch und arbeitsteilig geprägten sowie mit ihrer anderskonfessionellen Mehrheitsumgebung verzahnten ukrainischen Gesellschaft wurden von den Befürwortern des neuen Kalenders ins Feld geführt. Demgegenüber befürchteten die Gegner der Einführung des gregorianischen Kalenders, dass die Ukrainer mit diesem Schritt eines Elements ihrer national-konfessionellen Identität und Abgrenzung verlustig gehen würden, was einer weiteren Assimilation Vorschub leisten könnte. Die griechisch-katholische Kirchenhierarchie selbst hielt sich in diesen Diskussionen auffällig zurück, signalisierte aber ihre Offenheit für die Reform.

Schließlich tanzt der Aufsatz von Martha Bohachevsky-Chomiak etwas aus der Reihe: Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Entwicklungen außerhalb der eigentlichen Ukraine, nämlich in der ukrainischen Gemeinschaft Nordamerikas. Thematisiert wird in dem Beitrag ein Konfliktpotential, das wegen der Gleichsetzung von griechisch-katholischer Kirche und ukrainischer Nationsbildung in Galizien sonst tendenziell nicht im Vordergrund des Interesses steht: Nämlich das Verhältnis zwischen dem Macht- und Alleinvertretungsanspruch der (griechisch-katholischen) Kirche gegenüber jenem des Staates, letzterer in diesem Falle verkörpert durch die verschiedenen Vereinigungen der Ukrainer und ihrer „weltlichen Intelligenz“ in den USA. Der Beitrag fokussiert dabei auf die Rolle von Konstantyn Bohachevsky, der von 1924 bis 1961 zuerst als Bischof und später als Metropolit der griechisch-katholischen Kirchen in den USA vorstand.

Christophe von Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Religion, Nation, and Secularization in Ukraine. Ed. by Martin Schulze Wessel / Frank E. Sysyn. Edmonton, Toronto: CIUS, 2015. XI, 174 S. ISBN: 978-1-894865-38-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_Schulze_Wessel_Religion_Nation_and_Secularization.html (Datum des Seitenbesuchs)

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