Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christophe von Werdt

 

Bogdan Horbal: Lemko Studies. A Handbook. Boulder, CO, New York: East European Monographs; Columbia University Press, 2010. XI, 706 S., 1 Kte. = East European Monographs, DCCXXX; Reference Works in Carpatho-Rusyn Studies, 6. ISBN: 978-0-88033-639-0.

Anna Plishkova: Language and National Identity. Rusyns South of Carpathians. Translated by Patricia A. Krafcik. With a bio-bibliographic introduction by Paul Robert Magocsi. Boulder, CO; New York: East European Monographs; Columbia University Press, 2009. XIX, 230 S., 2 Ktn., 4 Tab., 66 Abb. = East European Monographs, DCCXLVIII. ISBN: 978-0-88033-646-8.

Yeshayahu A. Jelinek: The Carpathian Diaspora. The Jews of Subcarpathian Rus’ and Mukachevo, 1848–1948. Photographic Essay and Maps by Paul Robert Magocsi. New York: Carpatho-Rusyn Research Center; Distributed by Columbia University Press, 2007. XX, 412 S., 3 Ktn., 54 s/w-Abb. = East European Monographs, DCCXXI; Classics of Carpatho-Rusyn scholarship, 13. ISBN: 978-0-88033-619-2.

Die drei vorgenannten Werke verdanken ihre Veröffentlichung in englischer Sprache zu einem guten Teil der Umtriebigkeit von Paul Robert Magocsi, dem Inhaber des Lehrstuhls für ukrainische Studien an der Universität Toronto, einem Förderer der karpato-rusinischen Sache und zugleich langjährigen Vorsitzenden des Rusinischen Weltkongresses. Man mag Magocsi als eminenten Historiker und modernen „nation-builder“ schätzen, kritisieren, belächeln etc. (vgl. die Sektion „The scholar, historian and public advocate. The academic contributions of Paul Robert Magocsi“ in der Zeitschrift „Nationalities Papers“ 39 (2011), Heft 1), den drei hier zu besprechenden Publikationen ist jedenfalls gemein, dass sie grundsätzlich nicht einer nationalistisch-exklusiven Perspektive der „Karpato-Rusinischen Nation“, sondern vielmehr einem historisch-kulturellen Interesse an der Region verpflichtet sind, in der Karpato-Rusinen leben.

Bohdan Horbal widmet sein Handbuch jener karpato-rusinischen Teilregion, die heute zu Polen gehört. Gleich zu Beginn definiert er den Begriff „Lemko“ als regional und kulturell, und nicht als „national“ bestimmt. Dass ein nationaler Definitionsversuch scheitern müsste, zeigen seine Ausführungen im umfangreichsten Kapitel des Handbuches, jenem zur Geschichte (170 S.). Denn die Lemken sind seit dem 19. Jahrhundert gespalten zwischen verschiedenen ‚nationalen‘ Orientierungen – zwischen einer russophilen, einer ukrainischen und einer rusinischen Richtung. Letztere wuchs aus der Bewegung des österreichisch-ungarischen Alt-Ruthenentums heraus, die ihre Identität ebenfalls im regionalen Zusammenhang verankert sah. Lange weicht Horbal dem Versuch einer eigentlichen Definition aus, was Lemken seien. Er definiert zwar den Begriff einleitend als territorial-regional bestimmt – verbunden mit den kulturellen Komponenten der ostslavischen Sprache und des ostkirchlichen Ritus. Im entsprechenden Kapitel zur Geographie umschreibt er dann jedoch das Lemken-Territorium (tautologisch) als jenes, wo eben die Lemken wohnen. Dabei räumt er auch ein, dass sich dieses insbesondere gegen Osten, gegenüber dem Gebiet der ebenfalls karpato-rusinischen Bojken, nicht klar abgrenzen lasse. Eine solch gleitende, offene Definition der Lemken korrespondiert allerdings mit den Ergebnissen jüngerer Forschungen: Demgemäß definieren sich die Lemken als Gruppe (neben Sprache und Ritus) in erster Linie über ihre familiäre und regionale Abstammung aus dem Karpaten-Gebiet Südpolens (S. 443). Horbals Handbuch behandelt die Lemken-Studien in ihrer ganzen Breite, wobei er dies zumindest in der Betitelung der Hauptteile mit positivistischem Vertrauen in die eindeutige Bestimmtheit seines Gegenstands tut (The Region, The People, History). Folgerichtig setzt er inhaltlich mit einer geographischen, geologischen, klimatischen, hydrologischen usw. Beschreibung des korrespondierenden Karpaten-Gebiets ein. Vorgelagert ist ein Kapitel zu den verschiedenen Informationsquellen zu Lemken-Studien (Bibliographien, Bibliotheken, Archive, Periodika, Internet). Der große und so auch in erster Linie intendierte Wert von Horbals Handbuch besteht zweifellos in seinem Charakter als umfangreicher bibliographischer Führer mit über 1900, teils sehr ausführlichen Fußnoten mit Hinweisen zu Veröffentlichungen zu zahlreichen Aspekten der Lemken-Studien (neben den bereits genannten: Sprache, Literatur, Volkskultur, Religion, Emigration usw.). Nicht nur im Kapitel zur Geschichte, das einen guten, in westlichen Sprachen sonst wohl kaum greifbaren einführenden Überblick bietet, erweist sich sein Zugang zu den Lemken-Studien wiederum vor allem als ein regionaler, der die Lemken und ihre Heimat nicht nur isoliert, sondern vor dem breiteren Hintergrund des polnisch-ukrainischen kulturellen Grenzraums verortet. An einer Stelle fordert Horbal mit moralischem Impetus dazu auf (S. 126 f), die Lemken müssten ihre eigenen Leute besser erziehen, damit sich bei der nächsten Volkszählung nicht nur rund 6000 von geschätzten 60.000 Lemken als solche deklarierten (Volkszählung 2002). Unbewusst (?) macht er damit auf ein Grundproblem gegenwärtiger karpato-rusinischer Forschungen aufmerksam, dass sich nämlich auch seine Lemken-Studien in einer Überlappungszone von ‚distanzierter‘ Wissenschaft und wissenschaftlich-konstruktivistischem „nation-building“ bewegen.

Bei der Abhandlung von Anna Plishkova handelt es sich gemäß dem biographischen Vorwort von Paul Robert Magocsi um die weltweit erste Dissertation, die in der rusinischen Sprache verfasst worden ist. Magocsi beschreibt die Autorin als prominente Vertreterin der jungen karpato-rusinischen „nationalen Intelligenzia“, in der Frauen besonders stark vertreten seien. Im Rückblick erscheint ihm dabei ihr Hineinwachsen in eine nationale Führungsrolle als „natürlicher Prozess“. Die Schrift von Plishkova ist deshalb unter zwei Blickwinkeln zu lesen: als Zeitdokument der jungen karpato-rusinischen Nationalbewegung in der nordöstlichen Slowakei nach 1989 und als wissenschaftliche Abhandlung darüber, wie sich das Rusinische über viele Hürden und Rückschläge hinweg zu einer der jüngsten Literatursprachen Europas zu entwickeln versucht. Plishkova ist bei der Schilderung dieser Geschichte einem nationalen Erfolgsnarrativ und einer entsprechenden Semantik verpflichtet, wie sie von anderen Nationalbewegungen her bekannt sind. Ihre Leitfrage lautet:Is it possible, then, that an ethnic group which history gradually deprived of its dignity could suddenly gather sufficient strength in a struggle to regain that dignity?“ Die „Selbstbestimmung der Karpato-Rusinen als Nationalität“, ein „nationales Erwachen oder Wiederaufleben“ sind für sie untrennbar verbunden mit der Etablierung des Rusinischen als Literatursprache (S. 3 f). Das erste Kapitel ihrer Dissertation schildert diesen historischen Kampf vom 18. Jahrhundert bis zur „feierlichen Ausrufung“ der kodifizierten Rusinischen Literatursprache am 27. Januar 1995 in Bratislava – einen in den Augen der Autorin natürlichen Prozess, den „übelgesinnte“ Vertreter der ukrainophilen Intelligenz, des früheren kommunistischen Regimes und selbst der postkommunistischen Regierung trotz entsprechenden Versuchen nicht aus der Bahn werfen konnten. Sie zeichnet in diesem Kapitel nach, wie bis zur Wende verschiedene Kodifizierungsversuche und sprachpolitische Maßnahmen miteinander im Widerstreit standen und auch die betroffene Bevölkerung spalteten, die überdies konfessionell verschiedenen ostkirchlichen Richtungen anhing. Diese Sprachpolitiken schwankten zwischen dem Ukrainischen, dem Russischen und der rusinischen Umgangssprache und gingen mit entsprechenden „nationalen“ Orientierungen einher, sie waren aber nicht zuletzt abhängig von den (außenpolitischen) Überlegungen der Entscheidungsträger in der jeweiligen, fernen Hauptstadt. Nach 1945 schien dabei die ukrainische Option beziehungsweise in deren Schlepptau die Assimilierung in die slowakische Mehrheitsumgebung die rusinische Umgangssprache immer weiter zu zurückzudrängen – ein Prozess, an dem das Rusinische in der Slowakei bis heute krankt. Im zweiten Kapitel untersucht Plishkova deshalb die verschiedenen Bereiche der slowakisch-rusinischen Gesellschaft, in welchen sich das Rusinische am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts – mit neuer Energie – funktional zu behaupten versucht. Diese Bestandsaufnahme liest sich streckenweise wie ein politisch-sprachnationales Programm, das auch Seitenhiebe gegen andere Meinungsführer der rusinischen Bewegung enthält. Sie zeigt aber vor allem, dass der Prozess der rusinischen Sprach- und Nationswerdung im Nordosten der Slowakei bei weitem noch nicht abgeschlossen und gesichert ist.

Die Monographie von Jelinek schließlich behandelt die jüdische Gemeinschaft des Transkarpaten-Gebiets, einer Region, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Königreich Ungarn gehörte, in der Zwischenkriegszeit zur Tschechoslowakei und heute den südwestlichsten Zipfel der Ukraine bildet. Neben der rusinischen und ungarischen Bevölkerung gewannen die jüdischen Bewohner der Region erst im 19. Jahrhundert zahlenmäßig an Bedeutung, und zwar ausgelöst durch die Zuwanderung hauptsächlich aus Galizien, aber auch aus Podolien und der Bukowina. Diese demographische Entwicklung begründet auch den zeitlichen Rahmen der Studie, die sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Jahre unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg erstreckt, als die überlebenden Juden zwischen drei Lebensperspektiven wählen konnten: dem Verbleiben unter sowjetischer Besatzung, der hindernisreichen Eingliederung in die (jüdische) tschechoslowakische Gesellschaft, oder der Auswanderung nach Palästina / Israel. Insgesamt vermittelt Jelinek ein vielfältiges Bild des jüdischen Gemeindelebens und Alltags, der jüdischen politisch-kulturellen Orientierungen und Bildungsoptionen in dieser osteuropäischen Kleinregion, in der die Juden – neben den Rusinen (63 %) und den Ungarn (15 %) – immerhin einen Anteil an der Bevölkerung von fast 13 % hielten (1930). Eine umfangreiche Einlage (Paul Robert Magocsi) mit Fotografien hauptsächlich aus den dreißiger Jahren illustriert das Leben der transkarpatischen jüdischen Gesellschaft zusätzlich eindrücklich. Der schwierigen, disparaten Quellenlage entsprechend behandelt Jelinek gewisse Bereiche aus der Geschichte des transkarpatischen Judentums ausführlicher als andere. Dies schmälert jedoch das Verdienst des Autors nicht, mit seinem Buch neue Materialien in die Diskussion eingeführt zu haben. Verschiedene Konstanten bestimmten dabei die Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft Transkarpatiens. Da waren einmal die relative Armut und Rückständigkeit, die nicht nur diese junge, vorwiegend galizisch-jüdische Diaspora betraf, sondern sämtliche Bewohner der Region. Dies fiel den auswärtigen Besuchern in ihren Berichten durchwegs auf. Das transkarpatische Judentum war überdies nicht vorwiegend großstädtischer Natur, sondern 70 Prozent lebten in Kleinstädten oder auf dem Dorf. Auch dass sie an traditionellen, ‚primitiven‘ Glaubens- und Lebensformen festhielten, war keine Besonderheit der jüdischen Bevölkerung dieses Gebiets. Vielmehr beschreibt es Jelinek als ein „Element einer allgemeinen transkarpatischen Kultur“ (S. 147, 199), die die Menschen über die religiösen und sprachlichen Unterschiede hinweg mehr einte als trennte – ihnen allerdings in der Außensicht häufig als weltverschlossene Ignoranz und Rückständigkeit ausgelegt wurde. Auch die Konflikte, die innerhalb der jüdischen Gesellschaft zwischen den verschiedenen religiösen Strömungen bestanden, waren letztlich genauso für die Rusinen charakteristisch. Gleiches gilt für den Druck – der sich durch die wechselnde Staatszugehörigkeit des Gebiets noch akzentuierte –, sich zwischen einer Vielzahl an Identitäts- und daraus folgend politischen Optionen entscheiden zu müssen (orthodox, reformorientiert, zionistisch, ungarisch, tschechoslowakisch). Krisenmomente des transkarpatischen Judentums waren vor diesem Hintergrund die Jahre 1918/1919 und 1938/1939, als die Region neuen staatlichen Zusammenhängen einverleibt wurde (weg vom Königreich Ungarn zur Tschechoslowakei und wiederum zu Ungarn). Nicht nur dass die jüdische Bevölkerung von der jeweiligen neuen Staatsmacht verdächtigt wurde, dem früheren Regime und seiner national tonangebenden Kultur gegenüber weiterhin loyal zu sein, auch die jüdischen Gemeinden der tschechoslowakischen beziehungsweise ungarischen politischen Zentren blickten mit Skepsis und Verachtung auf die in ihren Augen fremden und rückständigen „Ostjuden“ der transkarpatischen Peripherie ihres Staates. Die Jahre 1939–1944 brachten schließlich zuerst unter ungarischer Besatzung, dann ab 1944 unter deutscher Anleitung die weitgehende Vernichtung des transkarpatischen Judentums, im letzten Schritt durch die Deportationen nach Ausschwitz. Jelinek weist dabei der ungarischen Regierung, aber auch den lokalen ungarischen Verantwortungsträgern und Vollstreckern der Staatsgewalt einen großen Teil der Verantwortung für die Umsetzung der antisemitischen Politik in Transkarpatien zu, und zwar bis hin zur Durchführung der Deportationen im Frühling/Frühsommer 1944, bei der die deutschen Besatzer vorwiegend ‚nur‘ organisatorisch und beratend wirkten. Im Gegensatz zu den lokalen Ungarn, die zum „Staatsvolk“ gehörten, scheinen die ebenfalls marginalisierten Rusinen und vor allem die Rumänen den jüdischen Nachbarn in dieser Zeit des Schreckens eher mit helfender Hand beigestanden zu haben. Allerdings sind hier nach Jelinek weitere Forschungen notwendig – und er warnt vor vereinfachenden Schwarzweiß-Bildern. Obwohl sein Buch vorwiegend auf ausführlichen Quellenstudien basiert und damit neue Territorien erschließt, unterlegt Jelinek seine Aussagen über viele Passagen relativ dünn mit Anmerkungen und Verweisen, was leider die Nachvollziehbarkeit seiner Ausführungen und weitere Forschungen erschwert.

Christophe von Werdt, Bern

Zitierweise: Christophe von Werdt über: Bogdan Horbal: Lemko Studies. A Handbook. Boulder, CO; New York: East European Monographs; Columbia University Press, 2010. XI, 706 S., 1 Kte. = East European Monographs, DCCXXX; Reference Works in Carpatho-Rusyn Studies, 6. ISBN: 978-0-88033-639-0.Anna Plishkova Language and National Identity. Rusyns South of Carpathians. Translated by Patricia A. Krafcik. With a bio-bibliographic introduction by Paul Robert Magocsi. Boulder, CO; New York: East European Monographs; Columbia University Press, 2009. XIX, 230 S., 2 Ktn., 4 Tab., 66 Abb. = East European Monographs, DCCXLVIII. ISBN: 978-0-88033-646-8.Yeshayahu A. Jelinek The Carpathian Diaspora. The Jews of Subcarpathian Rus’ and Mukachevo, 1848–1948. Photographic Essay and Maps by Paul Robert Magocsi. New York: Carpatho-Rusyn Research Center; Distributed by Columbia University Press, 2007. XX, 412 S., 3 Ktn., 54 s/w-Abb. = East European Monographs, DCCXXI; Classics of Carpatho-Rusyn scholarship, 13. ISBN: 978-0-88033-619-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/von_Werdt_SR_Karpato-Rusinen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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